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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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nach dem andern an. Er sagt etwas nicht Hörbares. Der kurzsichtige Journalist bemerkt, daß die blitzenden Augen in diesem fahlen Gesicht auf ihn gerichtet sind:
    »Sie, Sie«, hört er, »Papier und Feder, hören Sie nicht? Ich will diese Infamie zu Protokoll geben. Los, schreiben Sie!«
    In diesem Augenblick erinnert sich der kurzsichtige Journalist seines Schreibbretts und seiner Tasche. Wie von der Tarantel gestochen, sucht er auf allen Seiten, und mit einem Gefühl, als hätte er einen Körperteil verloren, ein Amulett, das ihn beschützt, fällt ihm ein, daß er ohne beides auf die Höhe geklettert ist, daß Schreibbrett und Tasche auf dem Hang liegengeblieben sind. Weiter kann er nicht denken, denn Olimpio de Castro – die Augen voll Tränen – drückt ihm ein paar Bogen Papier und einen Bleistift in die Hand, und Doktor Souza Ferreiro hält ihm die Lampe.»Ich bin bereit«, sagt er und denkt, daß er nicht schreiben kann, daß ihm die Hände zittern werden.
    »Ich, Oberkommandierender des Siebten Regiments, bei vollem Bewußtsein, gebe zu Protokoll, daß der Rückzug aus dem Ort Canudos auf einen Beschluß erfolgt, der gegen meinen Willen von Untergebenen gefaßt wurde, die der historischen Verantwortung nicht gewachsen sind.« Für eine Sekunde richtet sich Moreira César im Bett auf und fällt dann wieder zurück. »Die kommenden Generationen sind aufgerufen, ihr Urteil abzugeben. Ich vertraue darauf, daß es Republikaner geben wird, die für mich eintreten. Mein ganzes Tun war ausgerichtet auf die Verteidigung der Republik, die ihre Autorität bis in den letzten Winkel geltend machen muß, wenn sie den Fortschritt des Landes will.«
    Als die Stimme verstummt, die so leise war, daß er sie fast nicht mehr hörte, merkt er es zuerst nicht, weil er mit Schreiben nicht nachgekommen ist. Wie vorhin das Auflegen der Ätherbinden ist Schreiben, diese manuelle Tätigkeit, eine Wohltat: es enthebt ihn der quälenden Frage, wie es möglich war, daß das Siebte Regiment Canudos nicht genommen hat, daß es sich zurückziehen mußte. Als er aufblickt, hält der Doktor das Ohr an die Brust des Oberst und fühlt ihm den Puls. Er richtet sich auf und macht eine vielsagende Geste. Sofort entsteht Unordnung, diskutiert Cunha Matos schreiend mit Tamarindo, während Olimpio de Castro zu Souza Ferreiro sagt, die Überreste des Oberst dürften unter keinen Umständen verletzt werden.
    »Ein Rückzug, jetzt, in der Dunkelheit, ist schiere Unvernunft«, schreit Tamarindo. »Wohin? Woher? Soll ich total erschöpfte Soldaten, die den ganzen Tag gekämpft haben, in den Tod schicken? Morgen ...«
    »Morgen sind hier nicht einmal mehr die Toten«, gestikuliert Cunha Matos. »Sehen Sie nicht, daß sich das ganze Regiment auflöst, daß es keinen Oberbefehl mehr gibt? Sie werden sie wie Hasen jagen, wenn sie nicht sofort neu aufgestellt werden.« »Stellen Sie sie neu auf, machen Sie, was Sie wollen, ich bleibe hier bis zum Morgen, um einen ordentlichen Rückzug durchzuführen.« Oberst Tamarindo wendet sich an Olimpio de Castro:
    »Versuchen Sie, bis zur Artillerie durchzukommen. Diese vierKanonen dürfen dem Feind nicht in die Hand fallen. Salomão da Rocha soll sie zerstören.«
    »Ja, Exzellenz.«
    Der Hauptmann und Cunha Matos verlassen gemeinsam das Zelt, und der kurzsichtige Journalist folgt ihnen automatisch. Er hört sie reden und glaubt nicht, was er hört:
    »Warten ist Wahnsinn, Olimpio. Jetzt müssen wir uns zurückziehen, sonst wird keiner von uns den Morgen erleben.«
    »Ich will versuchen, die Artillerie zu erreichen«, unterbricht ihn Olimpio de Castro. »Vielleicht ist es Wahnsinn, aber meine Pflicht ist, dem neuen Befehlshaber zu gehorchen.«
    Der kurzsichtige Journalist schüttelt ihn am Arm, flüstert: »Ihre Feldflasche, ich komme um vor Durst.« Er trinkt gierig, verschluckt sich, während ihm der Hauptmann rät:
    »Bleiben Sie nicht bei uns, der Major hat recht, das wird nicht gut enden. Gehen Sie weg.«
    Weggehen? Er, allein in der Caatinga, im Finstern? Olimpio de Castro und Cunha Matos verschwinden, lassen ihn verwirrt, ängstlich, erstarrt zurück. Um ihn herum sind nur Leute, die rennen oder schnell gehen. Er versucht ein paar Schritte in die eine, dann in die andere Richtung, er will zurück zum Zelt, aber jemand stößt ihn an und dreht ihn in eine andere Richtung. »Nehmen Sie mich mit, gehen Sie nicht weg«, schreit er, und ein Soldat ruft ihm, ohne sich umzudrehen, zu: »Laufen Sie, laufen Sie, sie

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