Der Krieg am Ende der Welt
kommen schon herauf, hören Sie nicht die Pfeifen?« Ja, er hört sie. Er beginnt zu laufen, ihnen nach, stolpert aber mehrmals, bleibt zurück. Er lehnt sich an einen Schatten, den er für einen Baum hält, doch kaum hat er ihn berührt, als er sich bewegt. »Binden Sie mich los, um der Liebe Gottes willen, binden Sie mich los«, hört er. Und erkennt die Stimme des Pfarrers von Cumbe, der bei dem Verhör durch Moreira César in gleicher Todesangst ebenso gewinselt hat. »Binden Sie mich los, binden Sie mich los, die Ameisen fressen mich auf.«
»Ja, ja«, stammelt der kurzsichtige Journalist und fühlt sich glücklich, nicht mehr allein. »Ich binde Sie los, ich binde Sie los.«»Gehen wir endlich«, bettelte der Zwerg. »Gehen wir, Jurema, gehen wir. Jetzt schießen keine Kanonen.«
Noch immer stand Jurema da und starrte auf Rufino und Gall, ohne zu bemerken, daß die Sonne die Caatinga vergoldete, die Tropfen trocknete, die Feuchtigkeit der Luft und der Büsche verdunstete. Der Zwerg schüttelte sie.
»Wohin sollen wir gehen?« antwortete sie in einem Gefühl großer Müdigkeit und Beklemmung.
»Nach Cumbe, nach Jeremoabo, irgendwohin«, beharrte der Zwerg und zog an ihr.
»Und wie kommen wir nach Cumbe, nach Jeremoabo?« murmelte Jurema. »Wissen wir es? Weißt du es?«
»Das macht nichts, das macht nichts«, kreischte er und schob sie an. »Hast du nicht gehört, was die Jagunços gesagt haben? Sie werden hier kämpfen, Schüsse werden fallen, sie werden uns töten.«
Jurema richtete sich auf und ging ein paar Schritte bis zu der Decke aus geflochtenem Gras, mit der die Jagunços sie zugedeckt hatten, nachdem sie sie von den Soldaten befreit hatten. Sie fühlte sich feucht an. Sie breitete sie über die Leichen des Spurensuchers und des Ausländers und gab acht, daß die am schlimmsten zugerichteten Teile, Oberkörper und Köpfe, bedeckt waren. Dann schlug sie, plötzlich entschlossen, ihre Benommenheit zu überwinden, die Richtung ein, in der sie Pajeú hatte weggehen sehen. Sofort fühlte sie die kleine, rundliche Hand des Zwergs in der ihren.
»Wohin gehen wir?« sagte der Zwerg. »Und die Soldaten?«
Sie zuckte die Achseln. Die Soldaten, die Jagunços, es war einerlei. Sie hatte alles und jeden satt und nur den einen Wunsch, zu vergessen, was sie gesehen hatte. Sie riß Blätter und Zweige ab, um den Saft zu saugen.
»Schüsse«, sagte der Zwerg. »Schüsse, Schüsse.«
Es waren rasch hintereinander fallende Schüsse, die sich in Sekundenschnelle über das Geschlängel des dichten Buschwaldes ausbreiteten, in dem sich Feuerstöße und Garben zu vervielfältigen schienen. Aber nirgends war ein lebendes Wesen zu sehen, nur ansteigende Erde, bedeckt von Dorngestrüpp und Blättern, die der Regen von den Bäumen geschlagen hatte, von schlammigen Tümpeln und einer Vegetation aus Macambirasmit Ästen wie Krallen und Mandacurús und Xique-Xiques mit messerscharfen Spitzen. Irgendwann in der Nacht hatte sie ihre Sandalen verloren, und obwohl sie den größten Teil ihres Lebens barfuß gegangen war, spürte sie, daß ihre Füße verletzt waren. Der Berg wurde immer steiler. Die Sonne, die ihr voll ins Gesicht fiel, schien ihre Glieder zu stärken und neu zu beleben. Daß etwas geschah, sagten ihr die Fingernägel des Zwerges, die sich in ihre Handfläche gruben. Aus vier Meter Entfernung zielte ein kurzläufiges, großkalibriges Gewehr auf sie, gehalten von einem Waldmenschen mit Rindenhaut, Zweigarmen und Kräuterbüscheln als Haar.
»Fort von hier«, sagte der Jagunço, das Gesicht aus dem Grasmantel streckend. »Hat dir Pajeú nicht gesagt, du sollst nach Jeremoabo gehen?«
»Ich weiß nicht, wie ich gehen soll«, antwortete Jurema.
»Scht, scht«, flüsterte es von mehreren Seiten, als würden Büsche und Kakteen zu sprechen beginnen. Aus den Zweigen sah sie Männerköpfe auftauchen.
»Versteck sie«, hörte sie Pajeú befehlen und wußte nicht, woher die Stimme kam, und fühlte sich zu Boden gezogen, niedergedrückt vom Körper eines Mannes, der seinen Grasmantel über sie deckte und ihr »scht, scht« zuraunte. Sie bewegte sich nicht, sie spähte aus halbgeschlossenen Augen. Am Ohr fühlte sie den Atem des Jagunço, und sie dachte, ob es dem Zwerg ebenso ging wie ihr. Da sah sie die Soldaten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, so nahe waren sie. Sie kamen in Zweierreihen, mit den roten Streifen an ihren Hosen, den blauen Jacken, den schwarzen Stiefeln und dem Gewehr mit blankem Bajonett. Sie
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