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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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hielt den Atem an, sie schloß die Augen in Erwartung der Schüsse, die gleich fallen mußten, aber da nichts geschah, schlug sie sie wieder auf, und noch immer zogen die Soldaten vorbei. Sie konnte ihre Augen sehen, leuchtend vor Kampflust oder verwüstet durch Mangel an Schlaf, sie sah die furchtlosen oder erschrockenen Gesichter, sie konnte einzelne Wörter aus ihrer Unterhaltung verstehen. War es nicht unglaublich, daß so viele Soldaten an ihnen vorbeizogen, ohne zu entdecken, daß da Jagunços lagen, die sie fast berührten, auf die sie beinahe traten?
    In diesem Augenblick flammte die Caatinga in einer einzigenPulverexplosion auf, und eine Sekunde lang war ihr, als sei sie auf dem Fest des heiligen Antonius in Queimadas, zu dem der Zirkus kam und Raketen abgeschossen wurden. Im Gewehrfeuer sah sie einen Regen von Grasmännern, die über die Uniformierten herfielen oder sie von unten ansprangen, und mitten im Rauch und Donner der Schüsse fühlte sie sich plötzlich losgelassen und hochgehoben, fortgezogen, und hörte »bück dich, bück dich«. Sie gehorchte, krümmte sich, zog den Kopf ein und rannte aus allen Kräften, jeden Augenblick einen Schuß in den Rücken erwartend, ihn fast erhoffend. Schweiß lief ihr übers Gesicht, und ihr war, als müßte ihr das Herz aus dem Hals springen. Da sah sie den Caboclo ohne Nase neben sich, der sie ein wenig spöttisch ansah.
    »Wer hat den Streit gewonnen? Dein Mann oder der Spinner?«
    »Sie haben sich gegenseitig umgebracht«, keuchte sie.
    »Um so besser für dich«, kommentierte Pajeú lächelnd. »Jetzt kannst du dir in Belo Monte einen anderen Mann suchen.«
    Der Zwerg stand neben ihr, keuchend wie sie. Sie sah Canudos. In seiner ganzen Ausdehnung lag es vor ihr, geschüttelt von Einschlägen, flimmernd von Feuerzungen und verstreuten Rauchwolken unter einem Himmel, dessen Reinheit und Bläue und strahlende Sonne dieser Unordnung widersprachen. Tränen traten ihr in die Augen, und Haß auf diese Stadt befiel sie, auf diese Menschen, die sich in diesen Gäßchen gegenseitig umbrachten wie in den Stollen eines Kaninchenbaus. Mit Canudos hatte ihr Unglück angefangen, wegen Canudos war der Ausländer in ihr Haus gekommen, und so war ein Schlag dem andern gefolgt, bis sie ohne einen Menschen und ohne irgend etwas, verloren in einem Krieg, in der Welt stand. Aus ganzer Seele wünschte sie ein Wunder, daß nichts geschehen wäre, daß Rufino und sie noch wie früher in Queimadas wären.
    »Weine nicht, Mädchen«, sagte der Caboclo. »Weißt du es nicht? Die Toten werden wiederauferstehen. Hast du es nicht gehört? Es gibt eine Auferstehung des Fleisches.«
    Er sprach ruhig, als hätten er und seine Männer nicht eben im Gefecht mit den Soldaten gestanden. Sie wischte sich die Tränen ab und sah sich um. Sie standen in einer Verbindungzwischen zwei Bergen, einer Art Tunnel. Links verdeckte ein kahler Felsüberhang den Berg, und rechts fiel eine vergleichsweise lichte Caatinga ab, die weiter draußen in eine steinige Ebene überging, auf der sich jenseits eines breiten Flusses ein Gewirr von Häuschen und roten Dächern und schiefen Fassaden erstreckte. Pajeú drückte ihr etwas in die Hand, und unbesehen verschlang sie die weiche, säuerlich schmeckende Frucht. Die Grasmänner gingen auseinander, schlugen sich in die Büsche, verschwanden in Erdlöchern. Wieder griff das mollige Händchen nach ihrer Hand. Sie fühlte Mitleid und Zärtlichkeit für diese vertraute Gegenwart.
    »Kommt hierher«, befahl Pajeú, ein paar Zweige aufhebend. Als sie im Erdloch hockten, zeigte er auf die Felsen: »Von dort kommen die Hunde.« Noch ein Jagunço war in dem Loch, ein zahnloser Mann, der zur Seite rückte, um ihnen Platz zu machen. Er hatte eine Armbrust und einen Köcher voll Pfeile. »Was wird passieren?« flüsterte der Zwerg.
    »Still«, sagte der Jagunço. »Hast du nicht gehört? Über uns sind die Ketzer.«
    Jurema spähte durch die Zweige. In Abständen fielen noch vereinzelte Schüsse, und dort drüben waren noch immer Rauchwolken und lodernde Brände, aber die Uniformierten, die sie den Fluß überqueren und in der Stadt hatte verschwinden sehen, konnte sie von dem Schlupfloch aus nicht mehr erkennen. »Still«, sagte der Jagunço, und zum zweitenmal an diesem Tag tauchten aus dem Nichts Soldaten auf. Diesmal waren es Reiter, die in Zweierreihen auf falben, schwarzen, braunen, gescheckten, wiehernden Pferden in allernächster Nähe links über die Felswand

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