Der Krieg am Ende der Welt
Krieg auch zu ihren Füßen, an beiden Ufern des Vaza Barris, stattfand. Von dort kam das Getöse, von dem sie gedacht hatte, sie hätte es geträumt.
Halb verwischt von Staub und Rauch sah sie in einem schwindelerregenden Getümmel gefallene, an die Ufer des Flusses geschwemmte Pferde, einige offenbar im Todeskampf, denn sie bewegten die langen Hälse, als bäten sie um Hilfe bei dem Versuch, aus dem schlammigen Wasser herauszukommen, in dem sie ertrinken oder verbluten würden. Ein Pferd ohne Reiter, das nur noch drei Beine hatte, sprang wie verrückt und wollte sich in den Schwanz beißen, und daneben wateten Soldaten mit hoch erhobenen Gewehren durch den Fluß, und andere kamen rennend und schreiend aus den Häusern vonCanudos. Zu zweit, zu dritt kamen sie in vollem Lauf, manche rückwärts wie Skorpione, und warfen sich ins Wasser, um drüben den Abhang zu erreichen, auf dem Jurema und der Zwerg waren. Von irgendwoher wurden sie beschossen, denn einige fielen brüllend, aufheulend, aber es gab auch Uniformierte, die über die Felsen hochzuklettern begannen.
»Sie werden uns umbringen, Jurema«, winselte der Zwerg.
Ja, dachte sie, sie werden uns umbringen. Sie stand auf, nahm den Zwerg bei der Hand und rief: »Lauf, lauf!« Sie rannte bergauf durch den am dichtesten bewachsenen Teil der Caatinga. Bald war sie erschöpft, aber der Gedanke an den Soldaten, der sie am Morgen angefallen hatte, trieb sie weiter. Als sie nicht mehr laufen konnte, ging sie im Schritt. Mitfühlend dachte sie an den Zwerg, wie erschöpft er sein mußte, mit seinen kurzen Beinen. Als sie anhielten, dunkelte es. Sie waren nun auf der anderen Seite des Bergs, das Gelände war stellenweise eben, der Bewuchs dichter. Der Kriegslärm war von weitem zu hören. Sie ließ sich zu Boden fallen und riß wahllos Grasbüschel ab und steckte sie in den Mund und kaute sie langsam, bis sie den scharfen Saft am Gaumen spürte. Sie spuckte aus, nahm wieder eine Handvoll, und so beschwichtigte sie ihren Durst. Der Zwerg, ein regloses Bündel, tat das gleiche. »Stunden sind wir gelaufen«, sagte er zu ihr, aber sie konnte seine Stimme nicht hören und dachte, daß er, wie sie, keine Kraft mehr hatte zu sprechen. Sie berührte seinen Arm, und er drückte dankbar ihre Hand. So lagen sie, atmeten, kauten, spuckten Gräser aus, bis zwischen den dünnen Zweigen der Favelas die ersten Sterne kamen. Bei ihrem Anblick erinnerte sich Jurema an Rufino, an Gall. Den ganzen Tag lang würden die Geier, die Ameisen, die Eidechsen an ihnen gepickt haben, sie würden schon anfangen zu verwesen. Nie mehr würde sie diese Reste sehen, die vielleicht nur ein paar Meter von ihr entfernt lagen. Tränen rannen ihr übers Gesicht. Da hörte sie Stimmen ganz in der Nähe, und sie suchte und fand die zitternde Hand des Zwerges, auf den eine von zwei Gestalten eben getreten war. Der Zwerg schrie wie am Spieß. »Schießt nicht, bringt uns nicht um«, heulte eine Stimme in nächster Nähe. »Ich bin Pater Joaquim, der Pfarrer von Cumbe. Wir sind friedliche Leute.«»Wir sind eine Frau und ein Zwerg, Pater«, sagte Jurema, ohne sich zu bewegen. »Auch wir sind friedliche Leute.« Diesmal kam ihre Stimme heraus.
Als in dieser Nacht der erste Kanonenschuß fiel, war die Reaktion Antônio Vilanovas nach einer Sekunde des Schreckens: den Heiligen mit seinem Körper schützen. Und so wie er reagierten auch João Abade und João Grande, der Beatinho und Joaquim Macambira und sein Bruder Honório, so daß er plötzlich Arm in Arm mit ihnen um den Ratgeber stand und den Weg der Granate berechnete, die vermutlich auf die São Cipriano niedergegangen war, die Gasse der Curandeiras, Zauberer, Kräuterkundigen und Räucherer von Belo Monte. Welche oder wie viele Hütten von alten Frauen, die Tränke gegen den bösen Blick brauten, oder von Knocheneinrenkern, die mit bestimmten Griffen die Gliedmaßen wieder zurechtbogen, waren in die Luft geflogen? Der Ratgeber riß sie aus ihrer Lähmung. »Gehen wir in den Tempel.« Während sie Arm in Arm durch die Campo Grande auf die Kirche zugingen, begann João Abade zu rufen, daß in allen Häusern Lichter und Lampen gelöscht werden sollten, sie seien Zielscheiben für den Feind. Sein Befehl wurde wiederholt, weitergegeben, befolgt. Je weiter sie gingen, an der Espirito Santo, Santo Agostinho, Santo Cristo und Maria Magdalena vorbei, die zu beiden Seiten der Campo Grande abzweigten, desto mehr Häuser versanken in Dunkelheit. Vor der Kreuzung Os
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