Der Krieg am Ende der Welt
der jämmerlichen Kolonne erkennt der kurzsichtige Journalist plötzlich Hauptmann Salomão da Rocha. Das Grüppchen Soldaten, die in einigem Abstand mit vier Kanonen, von Maultieren gezogen, auf die sie erbarmungslos einschlagen, den Schluß bilden, wird nun vollends abgeschnitten von einer Gruppe flankierender Jagunços, die zu rennen beginnt und sich zwischen sie und die übrigen Soldaten schiebt. Schon stehen die Kanonen still, und der kurzsichtige Journalist ist sich sicher, daß dieser Offizier – er trägt Säbel und Pistole, er spricht zu einzelnen der dicht um Maultiere und Kanonen gedrängten Soldaten, sicher um ihnen Befehle zu erteilen und ihnen Mut zuzusprechen, während die Jagunços sie immer enger einkreisen –, daß dieser Offizier Salomão da Rocha ist. Er erinnert sich an sein dünnes Schnurrbärtchen – den Stutzer nannten sie ihn –, an seine Manie, fortwährend von den in Katalogen angekündigten Verbesserungen der Comblains und der Präzision der Krupp-Kanonen zu sprechen, denen er Vor- und Zunamen gab. Als er kleine Rauchwölkchen sieht, weiß er, daß sie aufeinander schießen, aus nächster Nähe, nur daß er und seine Gefährten die Schüsse nicht hören, weil der Wind in eine andere Richtung weht. Die ganze Zeit haben sie geschossen, sich getötet, sich beschimpft, ohne daß wir es gehört haben, denkt er und hört auf zu denken, denn mit einemmal istdie Gruppe der Soldaten und Kanonen unter den sie einschließenden Jagunços versunken. Blinzelnd, starrend, mit offenem Mund sieht der kurzsichtige Journalist, daß der Offizier mit dem Säbel ein paar Sekunden lang dem Wirbel der Stecken, Picken, Spaten, Sicheln, Macheten, Bajonette oder was immer diese dunklen Gegenstände sein mögen, Widerstand leistet, bevor er gleich seinen Soldaten in der Masse der Angreifer untergeht, die jetzt hochspringen und sicherlich Schreie ausstoßen, die er nicht hören kann. Was er hört, ist das Wiehern der Maultiere, die er ebenfalls nicht mehr sieht.
Er bemerkt, daß er allein ist auf der Felsbalustrade, von der aus er die Gefangennahme der Artillerie des Siebten Regiments und den sicheren Tod der in ihr dienenden Soldaten und Offiziere gesehen hat. Zwanzig oder dreißig Meter vor ihm trottet der Pfarrer von Cumbe bergab, gefolgt von der Frau und dem Zwerg. Alles in ihm sträubt sich, aber die Angst, allein zu bleiben, ist größer, und er steht auf und beginnt ebenfalls bergab zu rennen. Er stolpert, rutscht, steht auf, balanciert. Viele Jagunços haben ihn und seine Gefährten gesehen, viele Gesichter sich herübergedreht, heraufgeschaut zu der Stelle, von der aus er nun hinunterläuft, sich seiner lächerlichen Ungeschicklichkeit, die Füße richtig zu setzen und aufrecht zu bleiben, bewußt. Der Pfarrer von Cumbe, zehn Meter vor ihm, sagt etwas, schreit und winkt, macht den Jagunços Zeichen. Verrät, denunziert er ihn? Wird er, um sich bei ihnen lieb Kind zu machen, sagen, er sei ein Soldat, wird er damit bewirken, daß ... Wieder kollert er ein Stück, unübersehbar. Er purzelt, rollt wie ein Faß, ohne Schmerz oder Scham zu empfinden, in Gedanken nur bei der Brille, die wunderbarerweise fest auf seinen Ohren sitzt, als er endlich liegenbleibt und aufzustehen versucht. Aber er ist so zerschlagen, betäubt, entsetzt, daß es ihm nicht gelingt, bis ein paar Arme ihn hochheben. »Danke«, murmelt er und sieht, wie Pater Joaquim von Jagunços auf den Rücken getätschelt und umarmt wird und andere ihm die Hand küssen, wie sie ihn überrascht und aufgeregt anstrahlen. Sie kennen ihn, denkt er. Wenn er sie bittet, werden sie mich nicht töten.
»Ich bin’s, ich bin’s, João, leibhaftig«, sagt Pater Joaquim zu einem großen, starken Mann mit gegerbter Haut, der, über undüber schmutzig, in einem Kreis von Leuten steht, die Kugelketten um den Hals tragen. »Kein Geist, sie haben mich nicht getötet, ich bin entkommen. Ich will nach Cumbe zurück, João Abade, fort von hier, hilf mir ...«
»Unmöglich, Pater, es ist gefährlich. Sehen Sie nicht, daß überall geschossen wird?« sagt der Mann. »Gehen Sie nach Belo Monte, bis der Krieg vorbei ist.«
João Abade, denkt der kurzsichtige Journalist, João Abade in Canudos? Er hört Gewehrfeuer, jäh, stark, allgegenwärtig, und das Blut stockt ihm in den Adern: »Wer ist der Kerl mit den vier Augen?« hört er João Abade sagen und sieht ihn auf sich deuten. »Ah, ja, ein Journalist, er hat mir geholfen freizukommen, er ist kein Soldat. Und diese
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