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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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die Welt Konturen annimmt, sieht er den Zwerg: Ja, er ist winzig wie ein zehnjähriges Kind und sein Gesicht durchfurcht von Falten. Er geht an ihrer Hand, einer Frau ohne Alter, mit offenem Haar und so mager, daß die Haut auf den Knochen aufzuliegen scheint. Beide sind lehmverschmiert, ihre Kleider zerrissen, und der kurzsichtige Journalist fragt sich, ob er ebenso abgerissen, verloren und schutzlos aussieht wie diese beiden und der rundliche Pfarrer, der entschlossen auf die Sonne zu marschiert. »Wir sind auf der anderen Seite der Favela«, sagt Pater Joaquim. »In dieser Richtung müßten wir auf den Weg von Bendengó stoßen. Gebe Gott, daß keine Soldaten kommen ...« Aber sie werden kommen, denkt der kurzsichtige Journalist. Oder statt ihrer Jagunços. Er denkt: Wir sind nichts, wir gehören weder zu dieser noch zu jener Partei. Sie werden uns töten. Er geht, überrascht, daß er nicht müde ist, vor sich die fadendünne Gestalt der Frau und den Zwerg, der springt, um nicht zurückzubleiben. Lange gehen sie, ohne eine Wort zu wechseln, in derselben Reihenfolge. Im sonnigen Morgen hören sie Vögel singen, das Summen von Insekten und vielfältige, undeutliche, unterschiedliche Geräusche, die stärker werden: vereinzelteSchüsse, Glocken, den schaurigen Klang einer Trompete, möglicherweise eine Explosion, vielleicht menschliche Stimmen. Das Pfäfflein weicht nicht vom Weg ab, es scheint zu wissen, wohin es geht. Die Caatinga beginnt sich zu lichten, an Büschen und Kakteen niedriger zu werden, bis sie in steile, unbewachsene Erde übergeht. Sie wandern eine Felswand entlang, die ihnen rechts den Blick verstellt. Eine halbe Stunde später erreichen sie den Kamm dieses steinernen Horizonts, und gleichzeitig mit dem Aufschrei des Pfarrers sieht der kurzsichtige Journalist, was diesen ausgelöst hat: ganz in der Nähe sind Soldaten, und hinter und vor und neben diesen Jagunços. »Tausende«, murmelt der kurzsichtige Journalist. Er möchte sich hinsetzen, die Augen schließen, alles vergessen. Der Zwerg kreischt: »Schau, Jurema, schau!« Der Pfarrer fällt auf die Knie, um den Blicken weniger Masse darzubieten, und auch seine Gefährten hocken sich hin. »Ausgerechnet! mitten in den Krieg mußten wir laufen«, flüstert der Zwerg. Das ist nicht der Krieg, denkt der kurzsichtige Journalist. Das ist die Flucht. Das Schauspiel am Fuß dieser Hänge, auf deren Scheitel sie stehen, verdrängt seine Angst. Also haben sie nicht auf Cunha Matos gehört, haben den Rückzug nicht mehr am Abend angetreten, sie tun es jetzt, wie Oberst Tamarindo es wollte.
    Die Masse der Soldaten, die sich da unten ungeordnet, in kläglichem Zustand, teils in dichten Gruppen, teils auseinandergezogen, auf einer weiten Fläche bewegen, Krankenwagen mitziehend oder Bahren tragend, die Gewehre irgendwie umgehängt oder sie als Stöcke oder Muletas benutzend, gleicht in nichts dem Siebten Regiment des Oberst Moreira César, wie er es erinnert, diesem disziplinierten, auf korrekte Kleidung und Formen bedachten Korps. Ob sie ihn dort oben beerdigt haben? Befördern sie den Toten auf einer dieser Bahren, liegt er auf einem dieser Karren?
    »Ob sie Frieden geschlossen haben?« murmelt der Pfarrer neben ihm. »Vielleicht einen Waffenstillstand?«
    Der Gedanke an Versöhnung erscheint ihm absurd, aber tatsächlich geschieht da unten etwas Merkwürdiges: Es wird nicht gekämpft, und doch sind Soldaten und Jagunços sich nahe, kommen sich immer näher. Die kurzsichtigen, sehgierigen, halluzinierten Augen springen hin und her zwischen deneinzelnen Gruppen der Jagunços, dieser unbeschreiblichen Menschheit in ausgefallensten Aufmachungen, mit Lappen als Kopfbedeckung und bewaffnet mit Stutzen, Karabinern, Stecken, Macheten, Rechen, Armbrüsten und Steinen, auch sie die verkörperte Unordnung, nicht anders als die Soldaten, die sie verfolgen oder, genauer, eskortieren, begleiten.
    »Haben sich die Soldaten ergeben?« sagt Pater Joaquim.
    »Führen sie sie als Gefangene ab?«
    Die großen Gruppen der Jagunços flankieren den trunkenen, aufgelösten Strom der Soldaten auf beiden Seiten, rücken immer näher an ihn heran, drängen ihn immer enger zusammen. Aber es fallen keine Schüsse. Nein, wenigstens nicht so wie gestern in Canudos, nicht diese Gewehrsalven und Explosionen, obgleich vereinzelte Schüsse gelegentlich an seine Ohren dringen. Und das Echo von Schimpfwörtern und Verwünschungen, denn was sonst könnten diese Stimmfetzen sein? In der Nachhut

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