Der Krieg am Ende der Welt
dabei hatte er eine Ordnung des Lebens, ein Miteinander von Dingen und Menschen, von Zeit und Raum und menschlicher Erfahrung gespürt, die sich ebenso radikal von der Logik, dem gemeinen Menschenverstand, der Vernunftunterschieden wie das, was er in der rasch einbrechenden, konturenauflösenden Nacht an diesen Menschen wahrnahm, die Trost und Kraft und Ausdauer schöpften aus dieser tiefen, hohlen, aufgerauhten Stimme, die sich so verächtlich über die materiellen Bedürfnisse ausließ, die so hochmütig auf das Geistige konzentriert war, auf alles das, was nicht eßbar, anziehbar, benutzbar war: Denken, Ergriffenheit, Gefühl, Tugend. Solange er sie hörte, glaubte der kurzsichtige Journalist intuitiv den Grund von Canudos erfaßt zu haben und zu begreifen, warum diese Verirrung, die Canudos war, andauerte. Doch als die Stimme schwieg und die Ekstase der Leute endete, war er ratlos wie zuvor.
»Da habt ihr ein bißchen Mais«, hörte er die Frau von Antônio oder die von Honório Vilanova sagen – ihre Stimmen waren nicht zu unterscheiden –, »und Milch.«
Er hörte auf zu denken, zu phantasieren, war nur noch das gierige Wesen, das mit den Fingern kleine Happen Maisbrei zum Mund führte, sie mit Speichel vermischte und lange zwischen Gaumen und Zunge hielt, bevor er sie schluckte, ein Organismus, der dankbar reagierte, sooft ein Schluck Ziegenmilch dieses Gefühl von Wohlbehagen in seinem Körper verbreitete.
Als sie gegessen hatten, rülpste der Zwerg, und der kurzsichtige Journalist hörte ihn vergnügt lachen. Wenn er ißt, ist er lustig, wenn nicht, traurig, dachte er. Ihm ging es nicht anders: sein Glück oder Unglück hing jetzt zu einem guten Teil von seinen Eingeweiden ab. Diese elementare Wahrheit galt für ganz Canudos, und doch: konnte man diese Leute als Materialisten bezeichnen? Denn eine andere, bleibende Idee in diesen Tagen war die, daß es dieser Gesellschaft auf dunklen Wegen, vielleicht durch Irrtümer und Unglücksfälle, gelungen war, sich freizumachen von der Sorge um das leibliche Wohl, die Wirtschaft, das unmittelbare Leben, all das, was in der Welt, aus der er kam, grundlegend war. Sollte dieses schmutzige Paradies der Geistigkeit und des Elends sein Grab werden? Während der ersten Tage in Canudos hatte er sich noch Illusionen gemacht, er hatte sich vorgestellt, der kleine Pfarrer von Cumbe würde sich seiner erinnern und ihm ein paar Führer, ein Pferd besorgen und er würde heimfahren könnennach Salvador. Aber Pater Joaquim hatte sie nicht mehr aufgesucht, und jetzt, hieß es, war er verreist. Abends erschien er nicht mehr auf dem Gerüst des unvollendeten Tempels, morgens las er nicht mehr die Messe. Nie hatte er bis zu ihm gelangen, die dichte Masse bewaffneter Männer und Frauen mit den blauen Armbinden durchdringen können, die den Ratgeber und sein Gefolge umschlossen, und nun wußte niemand, ob Pater Joaquim zurückkommen würde. Wäre sein Schicksal anders verlaufen, wenn er mit ihm gesprochen hätte? Was hätte er zu ihm gesagt? Pater Joaquim, ich habe Angst, unter Jagunços zu leben, holen Sie mich hier heraus, bringen Sie mich irgendwohin, wo Militär und Polizei mir einige Sicherheit bieten können? Ihm war, als hörte er die Antwort des Pfäffleins. Und welche Sicherheit bieten Militär und Polizisten mir, Herr Journalist? Haben Sie vergessen, daß ich nur durch ein schieres Wunder dem Halsabschneider entkommen bin und nicht getötet wurde? Meinen Sie, ich könnte noch einmal dahin, wo Militär und Polizisten sind? Er brach in ein hemmungsloses hysterisches Lachen aus. Er hörte sich lachen und erschrak bei dem Gedanken, daß sich die verschwommenen Wesen dieser Stadt von diesem Lachen beleidigt fühlen könnten. Der Zwerg, angesteckt, lachte ebenfalls aus vollem Hals. Er sah ihn im Geist, klein, verwachsen, sich krümmend. Es irritierte ihn, daß Jurema ernst blieb. »Ich sag’s ja, die Welt ist klein, wir haben uns wiedergefunden«, sagte eine rauhe Männerstimme, und der kurzsichtige Journalist bemerkte ein paar nähertretende Gestalten. Eine von ihnen, die kleinste, mit einem roten Fleck, der ein Halstuch sein mußte, pflanzte sich vor Jurema auf. »Ich dachte schon, die Hunde hätten Sie umgebracht da oben, auf dem Berg.«
»Sie haben mich nicht umgebracht«, antwortete Jurema.
»Das freut mich«, sagte der Mann. »Wäre auch schade gewesen.«
Er will sie für sich haben, er wird sie mitnehmen, schoß es dem kurzsichtigen Journalisten durch den Kopf. Seine
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