Der Krieg am Ende der Welt
gewesen, in dem er in Tränen ausgebrochen war. Schluchzend, wie er sich nicht einmal erinnerte, als Kind geschluchzt zu haben, hatte er die Frau angefleht, ihm zu helfen, ihn aus Canudos herauszubringen. Kleider, ein Haus, alles nur Erdenkliche hatte er ihr versprochen, wenn sie ihn, der fast blind und halb verhungert war, nicht verließ. Ja, sie wußte, daß ihn die Angst zu einem Haufen Kehricht machte, daß er zu allem fähig war, um Mitleid zu erwecken.
Der Zwerg war fertig. Er hörte einigen Beifall, und die Zuhörer begannen auseinanderzugehen. Angespannt versuchte er zu erkennen, ob sie die Hand vorstreckten, ob sie etwas gaben, hatte aber den trostlosen Eindruck, daß keiner es tat.
»Nichts?« flüsterte er, als er spürte, daß sie allein waren.
»Nichts«, erwiderte die Frau gleichmütig und stand auf.
Auch der kurzsichtige Journalist erhob sich, und als er bemerkte, daß sie – die lange, dünne Gestalt, an deren loses Haar und zerrissene Bluse er sich erinnerte – zu gehen begann, ging auch er. Der Zwerg ging neben ihm, den Kopf in Höhe seines Ellenbogens.
»Sie sind nur noch Haut und Knochen, schlimmer als wir«, hörte er ihn sagen. »Erinnerst du dich an Cipó, Jurema? Hier sehen sie noch jämmerlicher aus. Hast du je so viele Einarmige, Blinde, Krüppel, Veitstänzer, Albinos gesehen wie hier, so viele Leute ohne Ohren, Nasen und Haar, mit soviel Schorf und Flecken? Du hast es nicht gemerkt, Jurema. Ich schon. Ich fühle mich hier normal.«
Er lachte gutgelaunt, und der kurzsichtige Journalist hörte ihn eine ganze Weile eine lustige Melodie pfeifen.
»Ob sie uns heute wieder Maisbrei geben?« sagte er plötzlich beunruhigt. Aber gleichzeitig dachte er an etwas anderes und fügte bitter hinzu: »Wenn es stimmt, daß Pater Joaquim verreist ist, haben wir niemand mehr, der uns hilft. Warum hat er uns das angetan? Warum hat er uns verlassen?«
»Und warum nicht?« sagte der Zwerg. »Gehören wir zu ihm? Hat er uns von früher gekannt? Seien Sie dankbar, daß wir seinetwegen ein Dach haben, unter dem wir schlafen können.«
Es stimmte, er hatte ihnen geholfen, durch ihn hatten sie ein Dach. Wem, wenn nicht Pater Joaquim, hatten sie es zu verdanken, daß am nächsten Tag, als sie wieder mit schmerzenden Knochen und Muskeln im Freien schliefen, eine gewaltige, wirksame Stimme, offenbar die dieses kräftigen Brockens mit dem bärtigen Gesicht, zu ihnen gesagt hatte:»Kommt, ihr könnt im Lagerraum schlafen. Aber ihr dürft Belo Monte nicht verlassen.«
Waren sie Gefangene? Weder er noch Jurema, noch der Zwerg stellten diesem Mann, der befehlen konnte und mit einem einfachen Satz ihre Welt organisierte, eine Frage. Wortlos brachte er sie an einen Ort, den der kurzsichtige Journalist als groß, schattig, warm und vollgepfropft erriet, und ehe er verschwand, ohne auch nur festzustellen, wer sie waren und was sie hier taten oder tun wollten, wiederholte er ihnen, sie dürften Canudos nicht verlassen und sie sollten mit den Waffen achtgeben. Der Zwerg und Jurema erklärten ihm, daß hier überall Gewehre, Schießpulver, Mörser, Platzpatronen herumlagen. Er begriff, daß es Waffen waren, die die Jagunços dem Siebten Regiment abgenommen hatten. War es nicht absurd, daß sie hier inmitten der Kriegsbeute schliefen? Nein, das Leben hatte aufgehört, logisch zu sein, also konnte es auch nicht absurd sein. Es war das Leben: man mußte es nehmen, wie es war, oder sich umbringen.
Daß hier etwas anderes als Vernunft die Dinge, die Menschen, die Zeit, den Tod ordnete, etwas, das Wahnsinn zu nennen ungerecht und Glauben oder Aberglauben zu nennen zu allgemein wäre, das dachte er seit jenem Abend, als er zum erstenmal den Ratgeber hörte, eingekeilt in die Menge, die in granitene Unbeweglichkeit und ein wie mit Händen zu greifendes Schweigen fiel, sobald die tiefe, laute, merkwürdig unpersönliche Stimme erklang. Mehr als von den Worten und dem majestätischen Ton dieses Mannes fühlte sich der Journalist betroffen, verwirrt, überwältigt von der Ruhe und Stille, in der diese Menschen ihm zuhörten. Es war wie ... wie ... Verzweifelt suchte er nach diesem Vergleich, von dem er wußte, daß er zuunterst in seinem Gedächtnis lag, denn mit Sicherheit würde ihm klarwerden, was er fühlte, sobald er ihn fände. Ja, wie beim Candomblé. Einige Male hatte er in den Gäßchen hinter dem Bahnhof A Calçada den frenetischen Riten dieser Sekte beigewohnt, die in untergegangenen afrikanischen Sprachen sang, und
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