Der Krieg am Ende der Welt
Mißgeschicke und Liebeshändel von Olivier und Fierabras.Diese dunklen Klumpen, von denen er nicht wußte, ob es Männer oder Frauen waren, rührten sich nicht vom Fleck, waren offenbar gefangen von der Erzählung und Canudos und der Zeit entrückt. Wie war es möglich, daß er hier, am Ende der Welt, einen Zwerg, der sicher nicht lesen konnte, eine Romanze von den Rittern der Tafelrunde erzählen hörte, die vermutlich vor Jahrhunderten im Gepäck eines Seefahrers oder eines Bakkalaureus aus Coimbra hierhergekommen war? Wie viele Überraschungen hielt die Welt noch für ihn bereit?
Sein Magen zog sich zusammen, und er fragte sich, ob die Zuhörer ihnen Essen geben würden. Das war die zweite Entdeckung in diesen lehrreichen Tagen: daß Essen zu einer ihn ganz ausfüllenden, sein Denken Stunden und Stunden versklavenden Sorge werden konnte, und daß diese Sorge sich zeitweise als eine Quelle größerer Angst erwies als die Halbblindheit, in der er lebte, seit seine Brille kaputt war, dieser Zustand eines Menschen, der mit allem und jedem zusammenstieß und den Körper voll blauer Flecke hatte, weil er ständig gegen die Kanten nie genau erkennbarer Dinge prallte, die ihm im Weg standen und derentwegen er sich ständig entschuldigen und, um möglichem Ärger vorzubeugen, sagen mußte: »Ich kann nicht sehen, es tut mir leid.«
Der Zwerg legte eine Pause ein. Er brauche ein wenig Nahrung, sagte er – und der Journalist stellte sich seine schlau berechnete Mimik vor –, damit er die Geschichte zu Ende erzählen könne. Alle Organe des Journalisten wurden aktiv. Seine rechte Hand tastete nach Jurema und streifte sie. Das tat er viele Male am Tag, sooft etwas Neues geschah, denn immer war es die Schwelle des Neuartigen und Unvorhergesehenen, auf der seine – latent stets vorhandene – Angst die Oberhand gewann. Es war nicht mehr als eine flüchtige Berührung, um seine Unruhe zu beschwichtigen, denn seit Pater Joaquim ihnen endgültig entrückt schien, war Jurema seine letzte Hoffnung, die Frau, die für ihn sah und seine Hilflosigkeit milderte. Für sie waren er und der Zwerg eine Last. Warum ging sie nicht ihrer Wege und überließ sie sich selbst? Aus Großmut? Nein, sicher aus Trägheit, aus dieser schrecklichen Gleichgültigkeit heraus, der sie offenbar verfallen war. Doch der Zwerg mit seinen Geschichten bekam wenigstens die paar Handvoll Mais undgedörrtes Fleisch, durch die sie am Leben blieben. Nur er war der gänzlich Nutzlose, den die Frau früher oder später abschütteln würde.
Nach ein paar Witzen, die kein Lachen hervorriefen, nahm der Zwerg die Geschichte von Olivier wieder auf. Der kurzsichtige Journalist ahnte die Hand Juremas und öffnete die seine. Sofort führte er diese Form, die ein Stück trockenes Brot zu sein schien, zum Mund. Er kaute gründlich, gierig, sein ganzes Denken konzentriert auf den Brei, der sich in seinem Mund bildete und den er mühsam und unter Glücksgefühlen hinunterschluckte. Er dachte: Wenn ich überlebe, werde ich sie hassen, selbst die Blüten werde ich verfluchen, die ihren Namen tragen. Denn Jurema wußte, wie weit seine Feigheit ging, bis zu welchen Unsäglichkeiten sie ihn treiben konnte. Während er langsam, geizig, glücklich, ängstlich kaute, erinnerte er sich der ersten Nacht in Canudos, sah sich wieder, halbblind und mit Sägemehl in den Beinen, ein erschöpfter Mann, der taumelte und fiel, dem die Ohren dröhnten von den Hochrufen auf den Ratgeber. Plötzlich hatte er sich hochgezogen gefühlt von einem Gewirr intensiver Gerüche, von öligen, flackernden Punkten, von dem anschwellenden Murmeln der Litaneien. Und ebenso plötzlich war alles verstummt. »Er ist es, der Ratgeber.« Seine Hand preßte mit solcher Kraft die Hand, an der er den ganzen Tag gehangen hatte, daß die Frau sagte: »Lassen Sie los, lassen Sie los.« Später, als die heisere Stimme schwieg und die Leute auseinanderzugehen begannen, ließen er, Jurema und der Zwerg sich, wo sie standen, zu Boden fallen. Den Pfarrer von Cumbe hatten sie im Gewühl verloren, als sie Canudos betraten. In seiner Predigt hatte der Ratgeber dem Himmel gedankt, daß er Pater Joaquim habe zurückkehren und wiederauferstehen lassen, und der kurzsichtige Journalist hatte ihn auf der Tribüne vermutet oder oben auf dem Gerüst am Turm, an der Seite des Heiligen, der zu ihnen sprach. Alles in allem hatte Moreira César recht gehabt: der Pfarrer war ein Jagunço, er war einer der Ihren. Das war der Augenblick
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