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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Kommuniqué war von aufreizender Wortkargheit, und anscheinend war kein Geringerer als Doktor Nina Rodrigues dafür verantwortlich: er hatte die spärlichen Zeilen verfaßt, in denen zur Enttäuschung der öffentlichen Meinung lakonisch stand, die Wissenschaft habe keine Anzeichen einer konstitutiven Anomalie am Schädel des Antônio Conselheiro festgestellt.«
    »Das erinnert mich an Galileo Gall«, sagte der Baron, während er einen hoffenden Blick auf den Garten warf. »Auch er glaubte wie ein Verrückter, daß die Schädelformen den Charakter offenbaren.«
    Das Urteil von Doktor Nina Rodrigues wurde aber nicht von allen seinen Kollegen in Salvador geteilt. So legte DoktorNepomuceno de Albuquerque eine Studie vor, die von dem Bericht der wissenschaftlichen Kommission abwich. Er vertrat die Ansicht, es handle sich bei diesem Schädel – nach der Klassifikation des schwedischen Naturforschers Retzius – um einen typischen Kurzschädel mit einer Tendenz zu geistiger Beschränktheit und Eingleisigkeit (dem Fanatismus, beispielsweise). Andererseits entspreche die Schädelkrümmung aufs genaueste derjenigen, welche der Gelehrte Benedikt bei jenen Epileptikern festgestellt habe, von denen der Wissenschaftler Samt gesagt habe, sie trügen das Meßbuch in der Hand, führten den Namen Gottes im Mund und trügen die Stigmata des Verbrechens und des Banditentums im Herzen.
    »Merken Sie es?« sagte der kurzsichtige Journalist schnaufend wie nach einer gewaltigen Anstrengung. »Canudos ist nicht eine Geschichte, sondern ein ganzer Geschichtenbaum.«
    »Ist Ihnen nicht gut?« fragte der Baron ohne Wärme. »Auch Ihnen bekommt es offenbar nicht, von diesen Dingen zu sprechen. Haben Sie alle diese Ärzte aufgesucht?«
    Der kurzsichtige Journalist war wie eine Raupe zusammengefaltet, schien, in sich versunken, vor Kälte erstarrt zu sein. »Nach beendeter medizinischer Untersuchung stellte sich ein Problem. Was tun mit diesem Schädel? Irgend jemand schlug vor, ihn als geschichtliche Kuriosität ins Nationalmuseum zu schicken. Er stieß auf geschlossenen Widerstand. Bei wem? Bei den Freimaurern. Am Senhor de Bonfim sei es genug, sagten sie, ein Ort für orthodoxe Pilgerfahrten reiche. Werde dieser Schädel in einer Vitrine ausgestellt, würde das Nationalmuseum eine zweite Kirche des Senhor de Bonfim werden, ein Heiligtum der Ketzer. Die Armee stimmte zu: man mußte verhindern, daß der Schädel zur Reliquie und Keim künftiger Aufstände wurde. Aber wie?«
    »Selbstverständlich nicht durch Beerdigung«, murmelte der Baron.
    »Selbstverständlich, denn früher oder später würde das fanatisierte Volk die Stelle finden. Welcher Platz war sicherer und weiter abgelegen als der Meeresgrund? Also wurde der Schädel in einen Sack gelegt, der Sack mit Steinen gefüllt und zugenäht und nachts im Boot von einem Offizier an einer Stelle im Atlantik, die gleich weit entfernt war von der Festung SãoMarcelo und der Insel Itaparica, in den Schlick geworfen: eine Unterlage für Sternkorallen. Mit dieser geheimen Mission wurde wiederum Leutnant Pinto Souza beauftragt. Ende der Geschichte.«
    Er schwitzte dermaßen und war so blaß geworden, daß der Baron dachte: Er wird in Ohnmacht fallen. Was fühlte dieser Hampelmann für den Ratgeber? Bewunderung? Morbide Faszination? Oder war es nur die Neugier des Schwätzers? Hielt er ihn wirklich für einen Abgesandten des Himmels? Warum litt er und quälte sich mit Canudos? Warum versuchte er nicht, wie alle Welt, zu vergessen? »Sagten Sie Galileo Gall«, hörte er ihn sagen. »Ja«, bestätigte der Baron, vor sich die irren Augen, den kahlen Schädel des Journalisten, seine apokalyptischen Berichte im Ohr. »Gall hätte diese Geschichte verstanden. Er glaubte, das Geheimnis der Leute liege in ihren Schädelknochen. Ob er nach Canudos gekommen ist? Wenn ja, muß es schlimm für ihn gewesen sein, festzustellen, daß dies nicht die Revolution war, von der er träumte.«
    »Sie war es und war es auch wieder nicht«, sagte der kurzsichtige Journalist. »Canudos war das Reich des Obskurantismus und gleichzeitig eine brüderliche Welt mit einer sehr eigentümlichen Freiheit. Vielleicht hätte er sich gar nicht so enttäuscht gefühlt.«
    »Haben Sie gehört, was aus ihm geworden ist?«
    »Er starb irgendwo in der Nähe von Canudos«, sagte der Journalist. »Ich habe ihn früher oft gesehen. In einer Kneipe in der Unterstadt. Er war ein Schwätzer, farbig, aber ziemlich irr; er betastete Schädel und

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