Der Krieg am Ende der Welt
fanden sie ihn, bekleidet mit dem violetten Gewand und den Sandalen aus ungegerbtem Leder, eingewickelt in eine Strohmatte. Sein Haar war lang und gewellt: so stand es in dem notariellen Exhumierungsbericht. Alle hohen Offiziere waren zugegen, angefangen mit General Artur Oscar, der dem Lichtbildner der Ersten Kolonne, Senhor Flávio de Barro, befahl, die Leiche zu photographieren. Die Prozedur dauerte eine halbe Stunde, und trotz des Gestanks blieben alle.
Können Sie sich die Gefühle der Generäle und Obersten vorstellen, als sie diesen Feind der Republik, der drei Expeditionsheere massakriert, den Staat zerrüttet und sich mit England und dem Haus Bragança verbündet hatte, endlich als Leiche vor sich sahen?«»Ich habe ihn gekannt«, murmelte der Baron. Sein Gegenüber blieb stumm und sah ihn mit wäßrigem Blick fragend an. »Aber mir geht es mit ihm wie es Ihnen, Ihrer Brille wegen, mit Canudos gegangen ist. Ich kann ihn nicht identifizieren, er entzieht sich mir. Es war vor fünfzehn oder zwanzig Jahren. Ich war mit einem kleinen Gefolge in Calumbí, und anscheinend gaben wir ihnen zu essen und schenkten ihnen alte Kleider, weil sie die Gräber und die Kapelle in Ordnung brachten. Ich erinnere mich eher an eine Lumpensammlung als an eine Gruppe von Menschen. Zu viele heilige Männer kamen nach Calumbí. Wie hätte ich ahnen können, daß unter den vielen er der Wichtige war, der alle anderen ausstechen und Tausende von Sertanejos an sich ziehen würde?«
»Auch das biblische Land war voll von Erleuchteten und Häretikern«, sagte der kurzsichtige Journalist. »Deshalb haben sich so viele in Christus getäuscht. Sie haben nicht verstanden, ihn nicht wahrgenommen ...«
»Meinen Sie das im Ernst?« streckte der Baron den Kopf vor.
»Glauben Sie wirklich, daß der Ratgeber von Gott gesandt war?«
Doch der kurzsichtige Journalist setzte seine Geschichte beharrlich fort.
»Das notarielle Protokoll wurde vor der Leiche zu Papier gebracht, und die Leiche war schon so verwest, daß sich die Anwesenden Hände und Taschentücher vor die Nase halten mußten, weil ihnen übel wurde. Vier Ärzte nahmen die Maße ab, stellten fest, daß der Ratgeber einen Meter achtundsiebzig groß war und daß er nicht an einem Schuß gestorben war: die einzige Verletzung an seinem skelettartigen Körper war ein Bluterguß am linken Bein, der von einem Granatsplitter oder einem Steinwurf herrühren konnte. Nach einer kurzen Debatte wurde beschlossen, die Leiche zu enthaupten, damit die Wissenschaftler den Schädel studieren konnten. Sie wollten ihn der Medizinischen Fakultät von Bahia bringen, Doktor Nina Rodrigues sollte ihn untersuchen. Aber bevor sie mit dem Absägen begannen, schnitten sie dem Beatinho die Kehle durch. Sie taten es an Ort und Stelle, im Sanktuarium, und der Lichtbildner Flávio de Barros machte eine Aufnahme. Dann warfen sie ihn in die Grube, in die sie die kopflose Leiche desRatgebers zurückgelegt hatten. Für den Beatinho war das sicher eine gute Sache, neben dem Menschen begraben zu werden, den er so sehr verehrt, dem er so ergeben gedient hatte. Aber etwas mußte ihn in diesem letzten Augenblick doch erschreckt haben: daß er ohne Zeremonie, ohne Gebete, ohne hölzernes Behältnis wie ein Tier begraben werden würde. Das waren Dinge, um die man sich in Canudos Sorgen machte.«
Ein neuer Niesanfall unterbrach ihn. Doch er erholte sich wieder und sprach mit steigender Erregung, bisweilen stammelnd, weiter. Seine Augen flatterten unruhig hinter den Brillengläsern.
»Es war darüber debattiert worden, wer von den Ärzten es tun sollte. Major Miranda Cúrio, Chef des Feldsanitätsdienstes, war es schließlich, der die Säge ergriff, während die anderen die Leiche festhielten. Ursprünglich hatten sie vorgehabt, den Kopf in ein Gefäß mit Alkohol zu legen, aber da sich Haut- und Fleischreste aufzulösen begannen, steckten sie ihn in einen Sack voll Kalk. So wurde er nach Salvador gebracht. Die delikate Mission, ihn zu befördern, wurde Leutnant Pinto Souza anvertraut, dem Helden des Dritten Infanteriebataillons, einem der wenigen überlebenden Offiziere dieser von Pajeú im ersten Gefecht dezimierten Einheit. Leutnant Pinto Souza also übergab ihn der Medizinischen Fakultät, und Doktor Nina Rodrigues leitete die wissenschaftliche Kommission, die ihn untersuchte, maß und wog. Es gibt keine glaubhaften Berichte über das, was während der Untersuchung im Amphitheater gesprochen wurde. Das offizielle
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