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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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glauben, ihn nicht verstehen, schreien würde er, ich habe nichts zu schaffen mit diesen Verrückten, mit diesen Barbaren, aber es würde zwecklos sein. Sie würden ihm keine Zeit lassen, auch nur den Mund aufzumachen. Als Jagunço unter der anonymen Masse der Jagunços sterben: war das nicht der Gipfel des Absurden, ein schlagender Beweis für die angestammte Dummheit der Welt? Mit aller Kraft sehnte er sich nach Jurema und dem Zwerg, drängte es ihn, sie bei sich zu haben, mit ihnen zu sprechen, sie zu hören. Als gingen ihm plötzlich beide Gehörgänge auf, vernahm er deutlich die Mutter der Menschen: Es gebe Verfehlungen, die nicht abzubüßen seien, Sünden, die nicht vergeben werden könnten. In der überzeugten und ergebenen, gequälten Stimme schien Leid aus dem tiefsten Schoß der Jahre zu kommen.
    »Im Feuer ist eine Stelle, die auf mich wartet«, hörte er sie wiederholen. »Ich kann die Augen nicht davor verschließen, Sohn.«
    »Es gibt kein Verbrechen, das der Vater nicht vergeben kann«, antwortete rasch der Löwe von Natuba. »Die Mutter Gotteshat Fürsprache für dich eingelegt, und der Vater hat dir vergeben. Quäle dich nicht, Mutter.«
    Es war eine melodische, sichere, fließende, auf die innere Musik abgestimmte Stimme. Der Journalist dachte, daß diese wohltönende Stimme auf einen aufrechten, starken, schönen Mann schließen ließ, niemals auf den, der da sprach.
    »Es war klein und wehrlos und zart, ein Neugeborenes, ein Lämmchen«, psalmodierte die Frau. »Die Brüste der Mutter waren trocken, sie war böse, dem Teufel verkauft. Da steckte sie ihm ein Wollknäuel in den Mund und erstickte es unter dem Vorwand, sie könne es nicht leiden sehen. Das ist keine Sünde wie andere. Es ist die Sünde, die keine Vergebung kennt. In alle Ewigkeit wirst du mich brennen sehen.«
    »Glaubst du nicht an den Ratgeber?« tröstete sie der Schreiber von Canudos. »Spricht er nicht mit dem Vater? Hat er nicht gesagt, daß ...«
    Seine Worte gingen in Donnergetöse unter. Der kurzsichtige Journalist machte sich steif und schloß die Augen und zitterte unter dem Einschlag, hörte aber weiter der Frau zu, verband das Gehörte mit einer weit zurückliegenden Erinnerung, die ihre Worte aus den Tiefen, in denen sie begraben lag, heraufbeschworen in sein Bewußtsein. War sie es? Er hörte die Stimme wieder, die er vor zwanzig Jahren vor Gericht gehört hatte: sanft, traurig, unbetroffen, unpersönlich.
    »Sie sind die Kindsmörderin von Salvador«, sagte er.
    Er hatte keine Zeit, darüber zu erschrecken, daß er es gesagt hatte denn zwei Explosionen folgten einander, und der Laden krachte in allen Fugen, als würde er gleich einstürzen. Staub wirbelte auf, der sich ausschließlich in seinen Nasenlöchern zu konzentrieren schien. Er begann zu niesen, in immer stärkeren, schnelleren, hoffnungsloseren Anfällen nieste er, bis er sich auf dem Boden wand. Die Lungen würden ihm platzen, wenn er keine Luft bekam, und niesend schlug er sich mit beiden Händen auf die Brust, und wie im Traum sah er gleichzeitig durch die blauen Ritzen, daß tatsächlich der Tag anbrach. Die Schläfen angespannt zum Zerspringen, dachte er, daß dies das Ende sein würde, er würde ersticken, sich zu Tode niesen, eine blödsinnige Art zu sterben, aber den Bajonetten der Soldaten noch vorzuziehen. Immer noch niesend, ließ er sich auf denRücken fallen. Eine Sekunde später lag sein Kopf auf einem schmeichelnd warmen, weiblichen, schützenden Schoß. Die Frau legte ihn auf ihren Knien zurecht, trocknete ihm die Stirn, wiegte ihn wie eine Mutter, die ihr Kind in Schlaf wiegt. Betäubt, dankbar, murmelte er: Mutter der Menschen.
    Das Niesen, die Schwäche, das Ersticken befreiten ihn von der Angst. Er hörte die Kanonade wie etwas unendlich Fernes, und der Gedanke, daß er sterben würde, ließ ihn außerordentlich gleichgültig. Die Hände, das Geflüster, der Atem der Frau, die streichelnden Finger auf seinem Schädel, seiner Stirn, seinen Augen erfüllten ihn mit Frieden, führten ihn zurück in eine kaum erinnerte Kindheit. Er nieste nicht mehr, aber der Kitzel in den Nasenlöchern – zwei offene Wunden – sagte ihm, daß sich der Anfall jeden Augenblick wiederholen konnte. In diesem vagen Rauschzustand gedachte er anderer Anfälle, in denen er ebenfalls die Gewißheit des Todes gehabt hatte, erinnerte sich dieser Bohèmenächte in Bahia, die seine Niesanfälle brutal wie ein zensierendes Gewissen unterbrachen, sehr zur Heiterkeit

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