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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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diesem Lagerraum eingeschlossen? Das Zähneklappern, mit dem er den Löwen von Natuba die Anordnungen zum Sturm auf die Stadt hatte vorlesen hören, hielt noch immer an. Inzwischen mußte die Nacht vergangen, der Morgen angebrochen sein. Weniger als acht, zehn Stunden konnte das nicht gedauert haben. Doch die Angst dehnte die Sekunden, hielt die Minuten fest. Vielleicht war erst eine Stunde vergangen, seit João Abade, Pedräo, Pajeú, Honório Vilanova und João Grande weggerannt waren, weil die ersten Explosionen den Beginn dessen verkündeten, was das Papier das »Weichklopfen« nannte. Er erinnerte sich an ihren überstürzten Aufbruch, an ihre Diskussion mit der Frau, die ins Sanktuarium zurückkehren wollte und die sie überredeten, im Vorratslager zu bleiben.
    Das war, trotz allem, ein Lichtblick. Wenn sie diese beiden nahen Vertrauten des Ratgebers im Laden zurückgelassen hatten, dann waren sie hier geschützter als anderswo. Aber wares nicht lächerlich, in diesem Augenblick über sichere Plätze nachzudenken? Das »Weichklopfen« war kein Schießen mit ausgewählten Zielen; es waren wahllos verteilte Kanonenschüsse, die Brände entfachen, Häuser zerstören, die Gassen mit Leichen und Trümmern übersäen sollten, um die Einwohner einzuschüchtern und ihnen den Mut zu nehmen, die Soldaten anzugreifen, wenn sie in Canudos einfielen.
    Die Philosophie von Oberst Moreira César, dachte er. Diese Narren! Nichts, aber auch gar nichts verstanden sie von dem, was hier geschah, keine Ahnung hatten sie, wie diese Leute waren. Die endlose Kanonade auf die im Finstern liegende Stadt klopfte nur ihn weich. Er dachte: Die Hälfte, drei Viertel von Canudos müssen weggefegt sein. Aber bis jetzt hatte kein Geschoß in den Laden eingeschlagen. Dutzende von Malen hatte er die Augen zugekniffen und mit zusammengebissenen Zähnen gedacht: Jetzt kommt es, jetzt kommt es. Sein Körper hüpfte, wenn die Dachziegeln, die Backsteine, das Holz bebten, wenn der Staub aufwirbelte, in dem alles auf und über und unter ihm zu bersten, zu zerspringen, in Stücke zu fallen schien. Doch der Laden stand nach wie vor, er widerstand dem Ansturm der Einschläge.
    Die Frau und der Löwe von Natuba sprachen miteinander. Er hörte sie reden, verstand aber nicht, was sie sagten. Seit dem Beginn der Bombardierung hatten sie geschwiegen, und irgendwann hatte er die Vorstellung gehabt, sie seien von Kugeln getroffen und er halte ihnen die Totenwache. Die Kanonade hatte ihn taub gemacht; er spürte ein Kollern und Sausen in den Ohren, kleine inwendige Explosionen. Und Jurema? Und der Zwerg? Sie waren vergebens nach Fazenda Velha gegangen, Pajeú das Essen zu bringen, sie hatten ihn, der zur Besprechung in den Laden gekommen war, verfehlt. Ob sie noch am Leben waren? Ein Strom unbändiger, leidenschaftlicher, schmerzlicher Liebe durchdrang ihn, als er sich vorstellte, wie sie unter dem Bombenhagel in Pajeús Schützengraben geduckt waren und ihn sicher ebenso vermißten wie er sie. Wie war es möglich, daß er für diese Wesen, mit denen er nichts gemein hatte, von denen ihn so vieles, Herkunft, Erziehung, Sensibilität, Erfahrung, Bildung, trennte, eine so überströmende Liebe empfinden konnte? Was sie seit Monaten gemeinsam erlebten, das hattedieses Band zwischen ihnen geknüpft. Daß sie sich unvermutet, ohne es zu wollen, ohne zu wissen wie, durch diese seltsame, phantastische Verstrickung von Ursachen und Wirkungen, Zufällen, Unfällen und Koinzidenzen, die die Geschichte waren, in diese außerordentlichen Ereignisse, in dieses Leben am Rande des Todes geworfen sahen, das hatte sie so geeint. Nie wieder werde ich mich von ihnen trennen, dachte er. Ich werde sie begleiten, wenn sie Pajeú das Essen bringen, ich gehe mit ihnen nach ...
    Plötzlich fand er es lächerlich. Als ob nach dieser Nacht die Routine der vergangenen Tage weitergehen würde. Selbst wenn sie die Kanonade unversehrt überstanden: würden sie auch den zweiten Teil des Programms überleben, das ihnen der Löwe von Natuba vorgelesen hatte? Er sah sie vor sich: dicht gedrängte, kompakte Reihen Tausender und Abertausender von Soldaten, die mit gezogenem Bajonett an allen Straßenecken nach Canudos eindrangen, er spürte schon den kalten Stahl in seinem schmalen Rücken. Schreiend würde er ihnen sagen, wer er war, und sie würden ihn nicht hören, schreien würde er, ich bin einer der Euren, ein Zivilisierter, ein Intellektueller, ein Journalist, und sie würden ihm nicht

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