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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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möglichen Glücksgefühle.
    Das Knallen der Gewehre näherte sich, entfernte sich, schien um ihn zu kreisen; er hörte überstürztes Rennen. Da war das kleine, nervöse, asketische Gesicht von Oberst Moreira César, das er so oft gesehen hatte, wenn sie sich nach der Essensausgabe unterhielten. Er erkannte die Stimme wieder, die nie zögerte, ihren eindringlichen, stählernen Klang: Das Weichklopfen müsse dem Sturm vorausgehen, damit der Republik Menschenleben erhalten blieben, ein Geschwür müsse ohne Sentimentalität auf der Stelle geschnitten werden, sonst vergifte die Infektion den gesamten Organismus. Gleichzeitig wußte er, daß das Schießen, das Töten, das Verwunden, das Einstürzen zunahm, und hatte die Vorstellung, daß Bewaffnete über ihn hinwegstiegen, ohne auf ihn zu treten, und Nachrichten vom Krieg brachten, die er lieber nicht hören wollte, weil sie schlecht waren.
    Er war sicher, daß er nicht mehr träumte, als er feststellte, daß dieses Blöken von einem Lamm kam, das ihm die Hand leckte. Er streichelte den wuscheligen Kopf, und das Tier duldete es, ohne zu scheuen. Das andere Geräusch war ein Gespräch zwischen zwei Personen neben ihm. Er hielt die Brille ans Gesicht, die er im Schlaf festgehalten hatte. Im schwachen Licht erkannte er Pater Joaquim und eine barfüßige Frau, die ein blaues Kleid und auf dem Kopf ein blaues Tuch hatte. Der Pfarrer von Cumbe hatte ein Gewehr zwischen den Knien und eine Kugelkette um den Hals. Soviel er sehen konnte, bot er den Anblick eines Mannes, der gekämpft hatte: die dünnen Haarbüschel zerzaust und mit Erde verbacken, die Soutane in Fetzen, eine Sandale mit Bindfaden statt mit Lederstreifen gebunden. Er wirkte erschöpft. Er sprach von jemand, den er Joaquinzinho nannte.
    »Er ist mit Antônio Vilanova auf Viehfang gegangen«, hörte er ihn mutlos sagen. »Ich weiß von João Abade, daß die ganze Gruppe heil zurückgekommen und dann an die Schützengräben am Vaza Barris gegangen ist.« Er verschluckte sich und räusperte sich: »Die, die noch dem Sturm standhalten konnten.«
    »Und Joaquinzinho?« fragte die Frau.
    Es war Alexandrinha Corrêa, über die so viele Geschichten umliefen: daß sie unterirdische Quellen entdeckt hätte, daß sie Pater Joaquims Konkubine gewesen sei. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Sie und der Pfarrer saßen auf dem Boden. Die Tür ins Innere des Sanktuariums stand offen, und niemand schien drinnen zu sein.
    »Er ist nicht heimgekommen«, sagte der Pfarrer leise. »Antônio ist da und Honório und viele andere, die am Vaza Barris waren. Er nicht. Niemand konnte mir etwas sagen, keiner hat ihn gesehen.«
    »Ich möchte ihn wenigstens beerdigen können«, sagte die Frau.
    »Damit er nicht wie ein herrenloses Tier draußen liegenbleibt.«
    »Vielleicht ist er nicht tot«, murmelte der Pfarrer von Cumbe.
    »Wenn die Vilanova und andere zurückgekommen sind, warum nicht auch er? Vielleicht ist er auf den Türmen oder an der Barrikade in der São Pedro oder bei seinem Bruder in Fazenda Velha. Die dortigen Schützengräben haben die Soldaten auch nicht nehmen können.«
    Der kurzsichtige Journalist freute sich und hätte gern nach Jurema und dem Zwerg gefragt, hielt aber an sich: er fühlte, daß er sich in dieses private Gespräch nicht einmischen dürfe. Das Lamm knabberte an seiner Hand. Er setzte sich auf, aber weder der Pfarrer noch die Frau kümmerten sich darum, daß er wach war und sie hören konnte.
    »Wenn Joaquinzinho tot ist, dann ist es besser, daß auch Atanásio stirbt«, sagte die Frau. »Damit sie im Tod zusammen sind.«In seinem Nacken, hinter den Ohren, bildete sich Gänsehaut. War es das, was die Frau gesagt hatte, oder waren es die Glocken? Es hörte sie in nächster Nähe läuten, und aus unzähligen Kehlen tönten, im Chor gesprochen, Ave-Marias. Also war es Abend. Die Schlacht hatte fast einen Tag gedauert. Er horchte. Sie war noch immer nicht zu Ende. In das Glockenläuten und Beten mischten sich Schüsse. Manche knallten direkt über den Köpfen der Betenden, aber denen war der Tod wichtiger als das Leben. Sie hatten in völliger Verlassenheit gelebt, und nun war ihr ganzer Ehrgeiz ein gutes Begräbnis. Wie konnte man sie verstehen? Obwohl, wenn einer so lebte wie er in diesem Augenblick, der Tod vielleicht die einzige Hoffnung auf Wiedergutmachung war, ein »Fest«, wie der Ratgeber sagte. Der Pfarrer von Cumbe sah ihn an:
    »Es ist traurig, daß Kinder töten und im Kampf sterben müssen«,

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