Der Krieg am Ende der Welt
Oberin des Heiligen Chors und den Löwen von Natuba geklammert war, erkannte er in verzerrten Bildern die von der Explosion angerichteten Verwüstungen. Nicht nur das Dach, auch die Vorderfront war eingestürzt, und bis auf den Winkel, in dem sie standen, war der Laden ein Trümmerhaufen. Durch die eingestürzte Mauer sah er noch mehr Schutthaufen und Rauch und rennende Gestalten.
Da füllte sich der Raum mit bewaffneten Männern mit blauen Armbinden und Tüchern, zwischen denen er die starke, halbnackte Gestalt João Grandes erriet. Als der kurzsichtige Journalist, das Brillenglas ganz nah an der Pupille, sah, wie sie Maria Quadrado und den Löwen von Natuba umarmten, zitterte er: sie würden sie mitnehmen, er würde allein in den Trümmern zurückbleiben. Er hängte sich an die Frau und den Schreiber, und ohne alle Scham, ohne Skrupel winselte er, sie sollten ihn nicht verlassen, inständig flehte er sie an, und als der große Neger befahl, das Haus zu verlassen, zog ihn die Mutter der Menschen an der Hand hinter sich her.
Er trottete durch eine Welt in Trümmern: Unordnung, Rauchwolken, Lärm, Schutthaufen. Er hatte aufgehört zu weinen, seine Sinne waren konzentriert auf das gefährliche Unterfangen, Hindernisse zu umgehen, nicht zu stolpern, rutschen, fallen, die Frau nicht loszulassen. Dutzende von Malen war er über die Campo Grande zum Kirchplatz gegangen und konnte doch nichts wiedererkennen; eingefallene Mauern, Löcher,Steine, wahllos verstreute Gegenstände, ein Kommen und Gehen von Menschen, die zu schießen, zu fliehen, zu brüllen schienen. Statt der Kanonenschüsse hörte er nun Gewehrfeuer und das Weinen von Kindern. Er wußte nicht, wann er sich von der Frau gelöst hatte, aber plötzlich entdeckte er, daß er nicht mehr an ihr, sondern an einer anderen trottenden, wie er ängstlich keuchenden Gestalt hing. Er hielt sich an ein paar Strähnen struppigen, üppigen Haars fest. Sie hatten den Anschluß verloren, waren zurückgelassen worden. Kräftig packte er die Mähne des Löwen von Natuba: wenn er sie losließ, hatte er alles verloren. Und während er lief, sprang, auswich, bat er ihn, er solle nicht vorauslaufen, er solle Mitleid haben mit einem, der sich nicht selber helfen könne.
Da prallte er mit dem ganzen Körper gegen etwas, das er für eine Wand hielt, und es waren Männer. Er fühlte sich festgehalten, zurückgedrängt werden, als er die Frau hörte, die bat, man möge ihn durchlassen. Die Mauer tat sich auf. Undeutlich sah er Fässer und Säcke und Männer, die schossen und sich schreiend miteinander verständigten, dann betrat er zwischen der Mutter der Menschen und dem Löwen von Natuba durch eine Lattentür einen kleinen, schattigen Raum. Die Frau berührte sein Gesicht: »Bleib hier«, sagte sie. »Hab keine Angst. Bete.« Er konnte sehen, daß sie und der Löwe von Natuba durch ein zweites Türchen verschwanden.
Er ließ sich zu Boden fallen. Er war erschöpft, er fühlte Hunger, Durst, Schlaf, das Bedürfnis, den Alptraum zu vergessen. Er dachte: Ich bin im Sanktuarium. Er dachte: Da ist der Ratgeber. Er fühlte Staunen, bis hierher gekommen zu sein, er bedachte, wie privilegiert er war: aus nächster Nähe würde er die Achse des Sturms sehen, der über Brasilien hinzog, er würde den im Land bekanntesten und meistgehaßten Mann sehen und hören. Was würde es ihm nützen? Würde er noch Gelegenheit haben, es zu erzählen? Er versuchte zu hören, was drinnen im Sanktuarium gesprochen wurde, aber durch den Krach, der draußen herrschte, konnte er nichts hören. Das Licht, das zwischen dem Schilfgras einsickerte, war weiß und stark. Es war sehr heiß. Die Soldaten mußten nahe sein, auf den Straßen wurde vermutlich gekämpft. Dennoch erfüllte ihn tiefe Ruhe in diesem schattigen, menschenleeren Refugium.Die Lattentür knarrte, und schattenhaft sah er eine Frau mit einem Tuch auf dem Kopf. Sie gab ihm eine Schüssel voll Essen in die Hand und eine Büchse mit einer Flüssigkeit: Milch, wie er beim Trinken feststellte.
»Mutter Maria Quadrado betet für Sie«, hörte er. »Gelobt sei der gute Jesus.«
»Gelobt«, sagte er, ohne sein Kauen und Schlucken zu unterbrechen. Sooft er in Canudos aß, schmerzten ihn die Kiefer, als wären sie mangels Übung steif geworden. Es war ein lustvoller Schmerz, auf den sein Körper mit Freude reagierte. Sobald er fertig war, ließ er sich umfallen, legte seinen Kopf auf den Arm und schlief ein. Essen, schlafen: das waren jetzt die einzigen
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