Der Krieg am Ende der Welt
Gründen, mit Rücksicht auf den Bildungsstand der armen Menschen, die ihm nachfolgen, mit dem Schleier der Religion tarnen. Ist es nicht beachtlich, daß im hintersten Brasilien eine Gruppe von Aufständischen eine Gesellschaft gründet, in der die Ehe und das Geld abgeschafft sind und das Kollektiveigentum das Privateigentum abgelöst hat?
Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als mir Frei Evangelista de Monte Marciano sagte, nachdem er sieben Tage lang in einer Atmosphäre der Feindseligkeit in Canudos gepredigt habe, hätten ihn die Jagunços einen Freimaurer und Protestanten geschimpft, weil er sie gedrängt habe, in ihre Dörfer heimzukehren. Und als er von ihnen verlangt habe, sie sollten sich der Republik unterordnen, seien sie so wild geworden, daß er Canudos fluchtartig habe verlassen müssen.›Die Kirche hat dort jede Autorität eingebüßt, nur wegen eines Wahnsinnigen, der alle Leute den ganzen Tag über am Bau eines Gotteshauses arbeiten läßt.‹ Ich konnte sein Entsetzen nicht teilen, empfand vielmehr Freude und Sympathie für diese Menschen. Denn durch sie, möchte man sagen, entsteht im hintersten Brasilien jene Idee neu aus der Asche, welche die Reaktion in Europa im Blut gescheiterter Revolutionen erstickt zu haben glaubt. Auf ein nächstes oder auf immer.«
IV
Als Lelis Piedades, Rechtsanwalt des Barons de Canabrava, dem Gericht von Salvador förmlich mitteilte, daß die Fazenda Canudos von Kriminellen besetzt worden sei, hielt sich der Ratgeber dort seit drei Monaten auf. Durch die Sertöes war die Kunde geeilt, der Heilige, der ein Vierteljahrhundert lang kreuz und quer durch die Gegend gezogen war, habe Wurzeln geschlagen in diesem von kahlen Bergen eingeschlossenen Ort – Canudos genannt nach den kurzen Pfeifen, welche die Leute früher dort rauchten. Die Viehtreiber kannten den Ort, denn am Ufer des Vaza Barris pflegten die Herden zu nächtigen. In den folgenden Wochen und Monaten sah man Gruppen von Neugierigen, Sündern, Kranken, Landstreichern und Flüchtlingen aus Nord und Süd, aus Ost und West den Weg nach Canudos nehmen, in dem Vorgefühl und der Hoffnung, daß sie dort Verzeihung erlangen und Zuflucht, Heilung, Glück finden würden.
Am Morgen nach seiner Ankunft begann der Ratgeber mit dem Bau des Tempels, der, sagte er, ganz aus Stein sein und zwei sehr hohe Türme haben und dem guten Jesus geweiht sein sollte. Gegenüber der Kirche Santo Antônio wolle er ihn errichten. »Die Reichen sollen die Hand heben«, sagte er, als er im Schein des Feuers in dem entstehenden Dorf predigte. »Ich hebe sie, denn ich bin ein Kind Gottes, und Gott hat mir eine unsterbliche Seele gegeben, die vielleicht den Himmel verdient: den wahren Reichtum. Ich hebe sie, weil mich der Vater in diesem Leben arm gemacht hat, damit ich im anderen reich sein werde. Die Reichen sollen die Hand heben.« Da kam im funkensprühenden Dunkel aus Lumpen und Leder und gestreiften Baumwollkitteln ein Wald von Armen hervor. Sie beteten vor und nach den Stunden des Rats und hielten Prozessionen ab zwischen den halbfertigen Wohnhäusern und den aus Lumpen und Brettern errichteten Notunterkünften, in denen sie schliefen, und in der Nacht des Sertão hörte man sie Hochrufe auf die Jungfrau und den guten Jesus und Nieder-Rufe auf den Teufel und den Antichrist ausbringen. Und da unter den ersten Pilgern ein Mann aus Mirandela war, der auf Jahrmärkten dieFeuerwerke vorbereitet hatte – Antônio Fogueteiro –, wurden bei den Prozessionen in Canudos selbstverständlich auch Feuerwerkskörper gezündet und Raketen abgeschossen.
Der Ratgeber leitete die Arbeiten am Gotteshaus, beraten von einem Maurermeister, der ihm schon beim Ausbessern vieler Kapellen und in Arraial do Bom Jesus beim Neubau der Kirche geholfen hatte, und er bestimmte auch, welche Büßer Steine klopfen, welche Sand sieben oder Holz sammeln sollten. Abends, nach einem kargen Mahl, das – wenn er nicht gerade fastete – aus einem Brocken Brot und Obst, einem Bissen Maniok und ein paar Schluck Wasser bestand, hieß der Ratgeber die Neuangekommenen willkommen, ermahnte die anderen, gastfrei zu sein, und nach dem Credo, dem Vaterunser und den Ave-Marias predigte er und pries in beredten Worten Kasteiung, Abtötung des Fleisches, Enthaltsamkeit und ließ sie teilhaben an Visionen, die sich wie Erzählungen der Troubadoure anhörten. Das Ende sei nahe, man könne es sehen wie von der Höhe des Alto de Favela herab Canudos. Die Republik werde auch
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