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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Orientierungssinn, Konzentrationsfähigkeit, Hang zum Wunderbaren. Galileo Gall hat es entdeckt, sobald er Rufino hat abtasten dürfen. Er denkt: Es ist eine absurde Verbindung von Unvereinbarem. So als wäre einer gleichzeitig schamhaft und exhibitionistisch, freigebig und geizig.
    Zwischen Backsteinwänden, bedeckt mit Kritzeleien, ausgeschnittenen Zeitungsbildern von einer Opernaufführung und einem zerbrochenen Spiegel, bückt er sich über einen Kübel Wasser, um sich das Gesicht naß zu machen. Aus den Ritzen im Fußboden kommen kaffeebraune Kakerlaken heraus und verschwinden wieder, an der Decke hängt wie versteinert eine kleine Eidechse. Das Mobiliar besteht aus einer Bettstatt ohne Laken. Durch ein vergittertes Fenster dringt der Festtagstrubel ins Zimmer: Stimmen, von einem Lautsprecher verstärkt, Paukenschläge, Trommelwirbel und das Geschrei der Kinder, die Drachen steigen lassen. Irgendwer flicht in Angriffe gegen die Autonomistische Partei von Bahia, den Gouverneur Luiz Viana und Baron de Canabrava Lob auf Epaminondas Gonçalves und die Progressive Republikanische Partei.
    Galileo Gall begießt sich weiter mit Wasser, gleichgültig gegen den Lärm draußen. Als er fertig ist, trocknet er sich mit dem Hemd das Gesicht, läßt sich bäuchlings aufs Bett fallen, legt einen Arm als Kissen unter den Kopf. Er betrachtet dieKakerlaken, die Eidechse. Er denkt: Die Wissenschaft gegen die Ungeduld. Er ist seit acht Tagen in Queimadas, und obwohl er ein Mensch ist, der warten kann, verspürt er allmählich eine gewisse Angst. Ihretwegen hat er Rufino gebeten, er möge sich betasten lassen. Es ist nicht leicht gewesen, ihn zu überreden, denn der Spurenleser ist mißtrauisch, und Gall erinnert sich, wie gespannt er während des Abtastens dastand, bereit, ihn anzuspringen. Sie haben sich täglich gesehen, sie können sich mühelos verständigen, und um die Wartezeit hinzubringen, hat Galileo sein Verhalten studiert und sich Notizen über ihn gemacht. »Er liest im Himmel, in den Bäumen und auf der Erde wie in einem Buch. Er ist ein Mensch von einfachen, unwiderruflichen Ideen, sein strenger Ehrenkodex und seine Moral entstammen dem Umgang mit der Natur und den Menschen, nicht dem Studium, denn er kann nicht lesen, auch nicht der Religion, denn er scheint nicht gläubig zu sein.« Das alles stimmt mit dem überein, was seine Finger gefühlt haben. Nur nicht der Hang zum Wunderbaren. Worin äußert er sich, wieso hat er keines seiner Symptome an Rufino bemerkt in diesen acht Tagen, während er draußen in seiner Hütte oder bei einer Erfrischung im Bahnhof oder auf Spaziergängen am Ufer des Itapicurú zwischen den Lohgerbereien mit ihm über die Reise nach Canudos verhandelt hat? An Jurema, der Frau des Spurenlesers, ist dieser verderbliche, antiwissenschaftliche Hang, das Feld der Erfahrung zu verlassen und sich in Phantasmagorien und Wachträume zu versenken, offenkundig. Denn trotz aller Zurückhaltung in seiner Gegenwart hat sie Galileo Gall die Geschichte von dem geschnitzten heiligen Antonius auf dem Hauptaltar der Kirche von Queimadas erzählt. »Vor Jahren wurde die Figur in einer Grotte gefunden und in die Kirche gebracht, aber am nächsten Tag war sie verschwunden und stand wieder in der Grotte. Man band sie am Altar fest, damit sie nicht mehr entkam, und trotzdem kehrte sie in die Grotte zurück. Und so kam sie und ging sie, bis eine Mission nach Queimadas kam, vier Kapuziner-Patres und der Bischof, und die Kirche des heiligen Antonius geweiht und das Dorf zu Ehren des Heiligen in Santo Antônio de Queimadas umgetauft wurde. Von nun an blieb das Bild ruhig auf dem Altar stehen, und jetzt werden Kerzen vor ihm angezündet.«Galileo Gall erinnert sich, daß Rufino, als er ihn gefragt hat, ob er an die von seiner Frau erzählte Geschichte glaube, die Achseln gezuckt und skeptisch gelächelt hat. Jurema aber glaubt daran. Galileo hätte auch sie gern abgetastet, hat es aber gar nicht erst versucht. Er ist sicher, daß der bloße Gedanke, ein Fremder könne den Kopf seiner Frau berühren, für Rufino unvorstellbar ist, denn er hat es mit einem mißtrauischen Mann zu tun. Es hat ihn Mühe gekostet, ihn so weit zu bringen, daß er einwilligte, ihn nach Canudos zu führen. Er hat um den Preis gefeilscht, Einwände vorgebracht, und obwohl er nun zugesagt hat, spürt Galileo sein Unbehagen, wenn er ihm vom Ratgeber und den Jagunços spricht.
    Unmerklich lenkt die von draußen eindringende Stimme seine Gedanken

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