Der Krieg am Ende der Welt
einen Krieg zu führen.‹ (Ich konnte ihm nicht die Augen öffnen und ihm erklären, daß sie in diesem Krieg bereits begriffen seien, seit sie gewaltsam das Land des Barons an sich genommen haben.) Er versicherte mir, es gebe unter diesen Männern notorische, wegen ihrer Raubüberfälle berühmte Verbrecher, und erwähnte insbesondere den für seine Grausamkeit berühmt-berüchtigten João Satanás, der sich mit seiner Bande in Canudos niedergelassen habe und einer der Stellvertreter des Ratgebers sei. Diesen, erzählt Frei João Evangelista, habe er folgendermaßenangeherrscht: ›Warum nehmen Sie Verbrecher in Canudos auf, wenn Sie Christen sein wollen?‹ Die Antwort: ›Um aus ihnen gute Menschen zu machen. Wenn sie geraubt und getötet haben, dann haben sie es aus Armut getan. Hier fühlen sie, daß sie zur Familie der Menschen gehören, und sind dankbar dafür und tun alles, um zu sühnen. Würden wir sie abweisen, würden sie neue Verbrechen begehen. Wir verstehen die Barmherzigkeit so, wie Christus sie praktiziert hat.‹ Diese Sätze, Genossen, decken sich mit der Philosophie der Freiheit. Ihr wißt, daß der Räuber ein Rebell im Urzustand ist, ein Revolutionär, der nicht weiß, daß er einer ist, und Ihr werdet Euch erinnern, daß in den dramatischen Tagen der Kommune viele Brüder, die als Verbrecher galten und aus den Gefängnissen der Bourgeoisie freigekommen waren, in den vordersten Reihen standen und Schulter an Schulter mit den Arbeitern kämpften und Beweise von Heldentum und Selbstlosigkeit erbrachten.
Es ist bezeichnend, daß sich die Leute von Canudos selber Jagunços nennen, ein Wort, das soviel wie Aufständische bedeutet. Der Kapuziner, der als Missionar das Landesinnere kreuz und quer bereist hat, kannte diese barfüßigen Männer und Frauen nicht wieder, die früher den Abgesandten der Kirche und Gottes so bescheiden und repektvoll begegnet waren. ›Sie sind wie umgewandelt. Eine Unruhe, ein Aufbrausen ist in ihnen. Sie sprechen laut, sie fallen einem ins Wort, um die übelsten Torheiten zu äußern, die ein Christ hören kann, Ansichten, die Ordnung, Moral und Glauben unterhöhlen. So zum Beispiel, daß jeder, der das Heil erlangen wolle, nach Canudos kommen müsse, da die übrige Welt dem Antichrist anheimgefallen sei.‹ Und wißt Ihr, wen die Jagunços als Antichrist bezeichnen? Die Republik! Ja, Genossen! Die Republik machen sie für alle Übel verantwortlich, darunter zwar einige recht abstrakte, aber auch so reale und konkrete wie den Hunger und die Steuern. Frei Evangelista de Monte Marciano wollte seinen Ohren nicht trauen. Zwar bezweifle ich, daß er, sein Orden oder die Geistlichkeit insgesamt von dem neuen Regime in Brasilien besonders begeistert sind, weil, wie ich Euch schon in einem früheren Brief schrieb, die Republik die Kirche geschwächt hat. Aber sie deshalb für den Antichrist zu halten! Der Kapuziner sagte mir Dinge, die, statt mich, wie erglaubte, zu erschrecken oder zu empören, in meinen Ohren Musik waren: ›Sie sind eine politisch-religiöse Sekte, die sich gegen die verfassungsmäßige Regierung des Landes auflehnt, sie bilden einen Staat im Staate, denn in Canudos werden weder Gesetze noch die Obrigkeit noch auch das Geld der Republik anerkannt.‹ In seiner geistigen Blindheit konnte er nicht begreifen, daß diese Brüder mit sicherem Instinkt gegen den Erzfeind der Freiheit – die Macht – rebellieren. Und welche Macht unterdrückt sie, welche Macht verweigert ihnen das Recht auf Land, auf Bildung, auf Gleichheit? Etwa nicht die Republik? Und daß sie sich bewaffnet haben, um gegen sie zu kämpfen, zeigt, daß sie auch die Methode begriffen haben, die einzige, die den Ausgebeuteten zur Verfügung steht, um ihre Ketten zu brechen: die Stärke. Das ist aber nicht alles, macht Euch auf größere Überraschungen gefaßt. Nicht nur Weibergemeinschaft, versichert Frei Evangelista, sondern auch Gütergemeinschaft sei in Canudos eingerichtet worden. Alles gehört allen. Der Ratgeber soll die Jagunços davon überzeugt haben, daß es eine Sünde sei – hört gut zu –, irgendein Gut, bewegliches oder unbewegliches, als Eigentum zu betrachten. Häuser, Saaten, Tiere gehören der Gemeinschaft, sie gehören allen und keinem. Der Ratgeber hat sie überzeugt, daß einer, je mehr er besitzt, desto weniger Aussichten hat, am Tag des Jüngsten Gerichts unter den Erwählten zu sein. Es ist, als würde er unsere Ideen in die Praxis umsetzen und sie nur aus taktischen
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