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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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weiß, daß es keinen Zufall gibt, daß alles einen tiefen Sinn hat, eine Wurzel, deren Verzweigungen immer zum Vater führen, und daß einer, wenn er heilig genug ist, diese wunderbare heimliche Ordnung, die Gott in der Welt errichtet hat, ahnen kann.
    Der Ratgeber ist wieder stumm, als hätte er nie gesprochen. Am Kopfende des Betts bewegt Pater Joaquim die Lippen in schweigendem Gebet. Aller Augen glänzen. Keiner hat sich geregt, obwohl alle ahnen, daß der Heilige gesagt hat, was er zu sagen hatte. Die neunte Stunde. Der Beatinho sah sie nahen seit dem Tod des weißen Lamms, das von einer verirrten Kugel getroffen wurde, als es, von Alexandrinha Corrêa geführt, den Ratgeber nach der Stunde des Rats ins Sanktuarium zurückbegleitete. Es war eines der letzten Male, daß der Ratgeber das Sanktuarium verlassen hatte. »Seine Stimme tönte nicht mehr, er war schon am Ölberg.« Mit übermenschlicher Anstrengung stieg er noch jeden Abend auf das Gerüst am Tempel des guten Jesus, um zu beten und Rat zu sprechen. Aber seine Stimme war nur noch ein Flüstern, kaum den neben ihm Stehenden verständlich. Selbst der Beatinho, der innerhalb der lebenden Mauer der Katholischen Wachmannschaft stand, hörte nureinzelne Worte. Als ihn Mutter Maria Quadrado fragte, ob er wünsche, daß das durch seine Liebkosungen geheiligte Tier im Sanktuarium begraben werde, sagte der Ratgeber nein und ordnete an, daß es der Katholischen Wachmannschaft zur Nahrung dienen solle.
    In diesem Augenblick bewegt sich die rechte Hand des Ratgebers, als suche sie etwas; seine knotigen Finger heben sich von der Strohmatratze, sinken zurück, biegen sich ein, strecken sich. Was sucht er? Was will er? In den Augen von Maria Quadrado, João Grande, Pajeú, den frommen Frauen sieht der Beatinho sein eigenes Verlangen.
    »Löwe, bist du da?«
    Er fühlt einen Dolchstich in der Brust. Alles hätte er darum gegeben, daß der Ratgeber seinen Namen ausgesprochen, daß seine Hand ihn gesucht hätte. Der Löwe von Natuba reckt sich auf und streckt den großen zottigen Kopf nach dieser Hand, um sie zu küssen. Aber die Hand läßt ihm keine Zeit; kaum fühlt sie die Nähe dieses Gesichts, tastet sie sich rasch an ihm hoch und senkt die Finger in die dichten Zotteln. Tränen verdecken dem Beatinho, was geschieht. Aber er braucht es nicht zu sehen, er weiß es: wie er es ihn so viele Male hat tun sehen, kratzt, laust, streichelt der Ratgeber mit seinen letzten Kräften den Kopf des Löwen von Natuba.
    Da erschüttert tosender Lärm das Sanktuarium und zwingt ihn, die Augen zu schließen, den Kopf einzuziehen, die Hände hochzuheben gegen das, was sich wie eine Steinlawine anhört. Blind hört er das Krachen, die Schreie, das Rennen, er fragt sich, ob er tot ist und ob es seine Seele ist, die zittert. Schließlich hört er João Abade: »Der Glockenturm von Santo Antônio ist eingestürzt.« Er öffnet die Augen. Das Sanktuarium ist voller Staub, und alle haben die Stellung gewechselt. Er bricht sich Bahn zum Bett des Ratgebers und weiß, was ihn erwartet. Durch Staubwolken sieht er die stille Hand auf dem Haupt des Löwen von Natuba, der unverändert neben ihm kniet. Und er sieht Pater Joaquim das Ohr an die eingefallene Brust halten. Nach einer Weile richtet sich der Pfarrer auf, fassungslos:
    »Er hat Gott seine Seele zurückgegeben«, stammelt er, und den Anwesenden dröhnt dieser Satz schrecklicher in den Ohren als das Getöse draußen.Keiner weint laut, keiner fällt auf die Knie. Sie sind zu Stein geworden. Sie vermeiden es, sich anzusehen, als offenbarten ihre Augen Schmutziges, wenn sie sich träfen, als staute sich in diesem höchsten Augenblick eine innere Schmach in ihnen. Staub regnet von der Decke, von den Wänden, und draußen, nahe und fern, vernehmen die Ohren des Beatinho, als wären es die eines anderen, Schreckensschreie, Weinen, Rennen, Knirschen und Fallen von Einstürzendem, dazwischen das Gebrüll der Soldaten, die in den Schützengräben, die früher einmal die Gassen São Cipriano und Saõ Pedro und der alte Friedhof waren, den Sturz des Kirchturms feiern, den sie so lange beschossen haben. Im Geist, als wäre es der eines anderen, sieht der Beatinho die Männer der Katholischen Wachmannschaft zu Dutzenden mit dem Glockenturm in die Tiefe stürzen, und zu Dutzenden die Verwundeten, Kranken, Krüppel, Gebärenden, Neugeborenen und alten Leute: zermalmt, zerschmettert unter den Lehmziegeln, Steinen und Balken, tot, schon erlöst, glorreiche

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