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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Beatinho, und alle Poren seiner Haut sind vor Aufregung aufgestellt. Gelobt sei der Vater, gelobt sei der gute Jesus. Wie Maria Quadrado, der Löwe von Natuba, Pater Joaquim und die frommen Frauen des Heiligen Chors tritt er an die Holzpritsche. Im stillen Licht des Abends sind aller Augen unverwandt auf das dunkle, lange, bewegungslose Gesicht, die immer noch versiegelten Lider geheftet. Es war keine Halluzination: er hat gesprochen.
    Der Beatinho sieht, daß der geliebte, vor Magerkeit lippenlose Mund sich öffnet, um zu wiederholen: »Antônio Vilanova.« Sie reagieren, sie sagen »ja, Vater«, sie laufen, sich gegenseitig im Weg, zur Tür und bitten die Katholische Wachmannschaft, Antônio Vilanova zu rufen. Zwischen den Säcken und Steinen des Schutzwalls springen mehrere Männer auf und beginnen zu laufen. In diesem Augenblick fallen keine Schüsse. Der Beatinho kehrt an das Bett des Ratgebers zurück: er liegt wieder schweigend und regungslos auf dem Rücken, die Augengeschlossen, Hände und Füße unbedeckt. Die Knochen zeichnen sich ab unter dem violetten Gewand, dessen Falten da und dort seine erschreckende Magerkeit verraten. Er ist schon mehr Geist als Fleisch, denkt der Beatinho. Aufatmend, da sie ihn wieder sprechen gehört hat, hält ihm die Oberin des Heiligen Chors eine Tasse mit ein wenig Milch hin. Andächtig und hoffnungsvoll hört er sie murmeln: »Möchtest du etwas trinken, Vater?« Oft hat er sie in diesen Tagen die gleiche Frage stellen hören. Aber anders als die anderen Male, in denen der Ratgeber dalag, ohne zu antworten, bewegt sich nun der skelettartige Kopf, an dem wirr das lange graue Haar herabfällt, in einer Verneinung. Ein Glücksgefühl durchströmt den Beatinho. Er lebt, er wird leben. Denn obwohl in diesen Tagen Pater Joaquim von Zeit zu Zeit zu ihm trat, um ihm den Puls zu fühlen und sein Herz abzuhorchen, und ihnen sagte, er atme, konnte der Beatinho nicht umhin, angesichts seiner Unbeweglichkeit und seines Schweigens zu denken, die Seele des Ratgebers sei zum Himmel aufgestiegen.
    Eine Hand zupft ihn vom Boden aus. Er blickt in die großen, leuchtenden Augen des Löwen von Natuba, der ihn aus einem Urwald von Zotteln bangend ansieht. »Wird er leben, Beatinho?« Aus dem Schreiber von Belo Monte spricht solche Angst, daß der Beatinho weinen möchte.
    »Ja, ja, Löwe, er wird für uns leben, er wird noch lange leben.«
    Aber er weiß, daß es nicht so ist; etwas in ihm sagt ihm, daß dies die letzten Tage, vielleicht die letzten Stunden des Mannes sind, der sein, des Beatinho, Leben geändert hat und das Leben all derer, die im Sanktuarium sind, und all derer, die da draußen im Sterben liegen oder kämpfen und fallen in den Höhlen und Schützenlöchern, in die Belo Monte sich verwandelt hat. Er weiß, daß es das Ende ist. Er weiß es, seit er von der Besetzung der Fazenda Velha und gleichzeitig von der Ohnmacht im Sanktuarium erfahren hat. Der Beatinho ist fähig, die Symbole, die geheime Botschaft solcher Koinzidenzen, Vorfälle und scheinbaren Zufälligkeiten zu entziffern, die die anderen nicht wahrnehmen; er hat ein Gespür, das ihn unter dem Harmlosen und Trivialen sofort die tiefe Anwesenheit des Jenseits erkennen läßt. Er war an diesem Tag in der KircheSanto Antônio, er betete mit den Verwundeten, Kranken, Gebärenden und Waisen in dem seit Beginn des Krieges in ein Gesundheitshaus verwandelten Gotteshaus, und er mußte laut sprechen, damit diese leidende, blutende, eiternde Menschheit, die schon auf halbem Weg zum Tode war, unter dem Lärm der Gewehrsalven und Kanonenschüsse seine Ave-Marias und Vaterunser hören konnte. Da sah er einen »Kleinen« in vollem Lauf über die mit Lumpen bedeckten Körper springen, und gleichzeitig mit ihm kam Alexandrinha Corrêa herein. Das Kind sprach als erster.
    »Die Hunde sind in Fazenda Velha, Beatinho. João Abade sagt, daß an der Ecke der Mártires eine Mauer gebaut werden muß, sonst haben die Hunde dort freien Durchgang.«
    Und kaum hatte der Kleine kehrtgemacht, als ihm die einstige Regenmacherin mit einer Stimme, noch verstörter als ihr Gesicht, die andere Nachricht ins Ohr flüsterte, die er als sehr viel ernster vorausahnte: »Der Ratgeber ist krank.«
    Die Beine zittern ihm, sein Mund ist ausgetrocknet und die Brust wird ihm schwer wie an jenem Morgen vor sechs, sieben oder schon zehn? Tagen. Es kostete ihn große Anstrengung, daß ihm die Beine gehorchten und er hinter Alexandrinha Corrêa herlaufen konnte. Als

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