Der Krieg am Ende der Welt
lärmenden Schießerei, taubstumm nach außen, hört der Beatinho wieder das feine, unverwechselbare Geräusch. Weder Maria Quadrado noch die frommen Frauen gehen ihn säubern. Alle stehen unbewegt, über das Bett gebeugt, wartend. Die Oberin des Heiligen Chors nähert ihren Mund dem Ohr, das von grauen Strähnen bedeckt ist, und wiederholt:
»Da ist Antônio Vilanova, Vater.«
Ein leichtes Liderzucken geht über die Augen, und der Mund des Ratgebers öffnet sich ein wenig. Er begreift, daß er Kraft sammelt, um zu sprechen, daß Schwäche und Leiden ihm nicht erlauben, einen Laut von sich zu geben, und er fleht zum Vater, ihm diese Gnade zu erweisen, und ist bereit, jede Qual anzunehmen, wenn er dafür die geliebte Stimme hört, die so schwach ist, daß alle Köpfe sich vorstrecken, um sie zu hören. »Bist du es, Antônio? Hörst du mich?«
Der ehemalige Kaufmann fällt auf die Knie, ergreift die Hand des Ratgebers und küßt sie inbrünstig. »Ja, Vater, ja, Vater.« Er schwitzt, ist aufgedunsen, atemlos, bebt. Der Beatinho fühlt Neid auf seinen Freund. Warum ist er gerufen worden? Warumer und nicht der Beatinho? Er tadelt sich für diesen Gedanken und fürchtet, der Ratgeber werde sie alle hinausschicken, um allein mit Antônio zu sprechen.
»Geh in die Welt und lege Zeugnis ab, Antônio, und überschreite nicht wieder den Kreis. Hier bleibe ich mit der Herde. Du sollst hinausgehen. Du bist ein Mann der Welt, geh, lehre die rechnen, die die Unterweisung vergessen haben. Der Heilige Geist leite dich und der Vater segne dich.«
Der ehemalige Kaufmann bricht in Schluchzen aus, sein Gesicht verzieht sich weinerlich. Das ist sein Testament, denkt der Beatinho. Er ist sich der Feierlichkeit und hohen Bedeutung dieses Augenblicks vollkommen bewußt. Was er sieht und hört, werden Tausende und Millionen von Menschen aller Sprachen, Rassen und Landstriche durch die Jahre und Jahrhunderte im Gedächtnis bewahren; eine gewaltige, noch ungeborene Menschheit wird dieser Stunde gedenken. Während Vilanova verzweifelt die braune, knochige Hand küßt, bittet er mit versagender Stimme den Ratgeber, ihn nicht fortzuschicken. Der Beatinho muß eingreifen, ihn daran erinnern, daß er in diesem Augenblick einen Wunsch des Ratgebers nicht in Frage stellen kann. Er tritt herzu, legt dem Freund eine Hand auf die Schulter, und der liebevolle Druck genügt, ihn zu beruhigen. Hilfeflehend, um Erklärung bittend, sieht ihn Vilanova aus verweinten Augen an. Der Ratgeber liegt still da. Wird er noch einmal seine Stimme hören? Er hört, zweimal hintereinander, das feine Geräusch. Oft hat er sich gefragt, ob der Ratgeber, jedesmal wenn es auftritt, Leibgrimmen, Stiche, Ziehen, Krämpfe spürt, ob ihn der Hund in den Bauch beißt. Jetzt weiß er, daß es so ist. Er braucht nur die leichte Verzerrung zu sehen, die auf dem abgezehrten Gesicht erscheint, sobald die Winde einsetzen, um zu wissen, daß sie unter marternden Flammen und Messerstichen kommen.
»Nimm deine Familie mit, damit du nicht allein bist«, flüstert der Ratgeber. »Und nimm auch die Fremden mit, die Freunde von Pater Joaquim. Möge sich jeder aus eigener Kraft die Seligkeit verdienen. Wie du, mein Sohn.«
Trotz der hypnotischen Aufmerksamkeit, mit der er den Worten des Ratgebers folgt, entgeht dem Beatinho nicht das Zucken auf dem Gesicht Pajeús: die Narbe scheint anzuschwellen, als wollte sie platzen, und sein Mund öffnet sich wie zu einer Frage oder, vielleicht, einem Protest. Es ist der Gedanke, daß die Frau, die er heiraten will, Monte Belo verlassen soll. Staunend begreift der Beatinho, warum sich der Ratgeber in dieser äußersten Stunde der Fremden erinnert, die unter Pater Joaquims Schutz stehen. Um einen Apostel zu retten! Um Pajeús Seele vor dem Fall zu bewahren, den diese Frau für ihn bedeuten könnte. Oder will er ihn einfach auf die Probe stellen? Oder ihn durch das Leid einen Ablaß von seiner Schuld gewinnen lassen? Pajeús Gesicht ist wieder ausdruckslos, dunkelgrün. Ruhig, gelassen, respektvoll, den Hut in der Hand, blickt er auf das Bett.
Der Beatinho hat nun die Gewißheit, daß dieser Mund sich nicht mehr öffnen wird. Nur sein anderer Mund spricht, denkt er. Aber welche Botschaft erteilt dieser Magen, der sich seit sechs, sieben, zehn? Tagen von Wasser und Winden entleert? Der Gedanke ängstigt ihn, daß diese Winde und dieses Wässerchen eine an ihn gerichtete Botschaft sein könnten, die er womöglich falsch auslegt oder überhört. Er
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