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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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er ins Sanktuarium trat, war der Ratgeber schon auf sein Bett gehoben worden und hatte die Augen wieder aufgeschlagen und beruhigte mit dem Blick die zu Tode erschrockenen Frauen und den Löwen von Natuba. Es war geschehen, als er aufstehen wollte, nachdem er mehrere Stunden lang gebetet hatte, mit ausgebreiteten Armen auf dem Boden liegend, wie er es immer tat. Die frommen Frauen, der Löwe von Natuba, Mutter Maria Quadrado sahen, wie schwer es ihm wurde, ein Knie auf die Erde zu stützen, wie er erst mit der einen, dann mit der anderen Hand nachhelfen mußte und wie er bleich wurde vor Anstrengung oder vor Schmerz, aufrecht zu stehen. Plötzlich fiel er wie ein Sack voll Knochen auf den Boden zurück. Da – vor sechs, sieben, zehn? Tagen – hatte der Beatinho die Offenbarung gehabt: die neunte Stunde war gekommen.
    Warum war er so egoistisch? Wie konnte er keine Freude darüber empfinden, daß der Vater Ratgeber nun ausruhen, daß er aufsteigen würde, um den Lohn zu empfangen für das, waser auf Erden getan hatte? Er müßte. Aber er kann nicht, seine Seele ist zu Tode betrübt. Wir werden verwaist sein, denkt er einmal mehr. Da lenkt ihn dieses feine Geräusch ab, das aus dem Bett kommt, unter dem Ratgeber entsteht. Es ist ein Geräusch, das den Leib des Heiligen nicht bewegt, aber schon laufen Mutter Maria Quadrado und die frommen Frauen herzu, um sein Gewand aufzuheben, ihn zu säubern, um demütig aufzunehmen, was – denkt der Beatinho – kein Exkrement ist, denn Exkremente sind schmutzig und unrein, und nichts, was von ihm kommt, kann unrein sein. Wie könnte dieses Wässerchen, das seit sechs, sieben, zehn? Tagen unablässig aus diesem ausgemergelten Leib rinnt, schmutzig und unrein sein? Hat der Ratgeber in diesen Tagen irgend etwas gegessen, so daß sein Organismus Unreinheiten ausscheiden müßte? Was da wegrinnt, ist seine Essenz, ist Teil seiner Seele, ist etwas, das uns allmählich verläßt. Er hat es vom ersten Augenblick an geahnt. Etwas Geheimnisvolles und Heiliges lag in diesen plötzlich einsetzenden, gedämpften, lang anhaltenden Winden, in diesen nicht enden wollenden, immer mit dem Ausscheiden dieses Wässerchens einhergehenden Anfällen. Er erriet es. Milde Gaben sind es, nicht Exkremente. Ganz deutlich verstand er, daß der Vater oder der Heilige Geist oder der gute Jesus oder die Gottesmutter oder der Ratgeber selbst ihnen eine Prüfung auferlegen wollten. Unter einer glücklichen Eingebung trat er vor, streckte die Hand zwischen den frommen Frauen durch, netzte die Finger in dem Wässerchen und führte sie an den Mund. »Soll so dein Diener kommunizieren, Vater?« psalmodierte er. »Ist dies nicht Tau für mich?« Alle frommem Frauen des Heiligen Chors kommunizierten wie er.
    Warum erlegte ihm der Vater eine solche Agonie auf? Warum wollte er, daß er seine letzten Momente kotend verbrachte, kotend, wenngleich Manna war, was seinem Leib entfloß? Der Löwe von Natuba, Mutter Maria Quadrado und die frommen Frauen verstehen es nicht. Der Beatinho hat versucht, es ihnen zu erklären und sie vorzubereiten: »Der Vater will nicht, daß er den Hunden in die Hand fällt. Wenn er ihn zu sich nimmt, dann geschieht es, damit er nicht erniedrigt wird. Aber er will auch nicht, daß wir glauben, er befreie ihn vom Schmerz, von der Buße. Deshalb läßt er ihn leiden, ehe ihm der Preis zuteil wird.«Pater Joaquim sagte ihm, er habe gut daran getan, sie vorzubereiten; auch er fürchtet, der Tod des Ratgebers könne sie überwältigen, ihnen unfromme Proteste entlocken, Reaktionen, die ihren Seelen schädlich sind. Der Hund liege auf der Lauer und würde sich eine Gelegenheit, solche Beute zu machen, nicht entgehen lassen.
    Er wird sich bewußt, daß die Schießerei wieder eingesetzt hat, stark und von allen Seiten, als die Tür des Sanktuariums aufgeht. Da steht Antônio Vilanova. Mit ihm kommen João Abade, Pajeú, João Grande, erschöpft, schwitzend, nach Pulver riechend, aber mit strahlenden Gesichtern: sie wissen, daß er gesprochen hat, daß er lebt.
    »Da ist Antônio Vilanova, Vater«, sagt der Löwe von Natuba, der sich auf den Hinterbeinen zum Ratgeber hochreckt. Der Beatinho hält den Atem an. Die Augen der Männer und Frauen, die den Raum füllen – sie stehen so dicht, daß keiner den Arm heben könnte, ohne an seinen Nachbarn zu stoßen –, hängen forschend an dem lippenlosen, zahnlosen Mund, an dem Antlitz, das wie eine Totenmaske wirkt. Wird er sprechen, wird er sprechen? Trotz der

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