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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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zum Ästhetischen festgestellt, zu überhaupt allem, was nicht mit praktischer und körperlicher Betätigung zusammenhing, aber niemand hatte je an diesem Behältnis seiner Seele die mindeste sexuelle Anomalie bemerkt. Er träumte oder dachte, was er schon einmal gedacht hatte: Die Wissenschaft ist erst eine Kerze, flackernd in einer großen, finsteren Höhle.
    Wie würde das Vorgefallene sich auf sein Leben auswirken? Hatte der in Rom gefaßte Entschluß noch eine Berechtigung? Sollte er ihn nach diesem Unfall erneuern oder ihn revidieren? War es ein Unfall? Wie sollte man wissenschaftlich erklären, was an diesem Morgen geschehen war? In seiner Seele – nein, in seinem Geist, das Wort Seele war von religiösem Schleim verunreinigt – hatten sich in diesen Jahren unbewußt die Triebe gespeichert, die er für längst entwurzelt gehalten hatte, die Energien, von denen er geglaubt hatte, er habe sie umgeleitet auf bessere Ziele als die Lust. Und durch die Umstände war dieses heimlich Aufgestaute an diesem Morgen explodiert: durch die Nervosität, die Spannung, den Schrecken, denüberraschenden Überfall, den Diebstahl, die Schießerei, die Toten. War das die richtige Erklärung? Ah, wenn er das als das Problem eines anderen mit jemandem wie dem alten Cubí objektiv hätte untersuchen können! Und er dachte an ihre Gespräche zurück – sokratische Gespräche nannte sie der Phrenologe –, wenn sie durch den Hafen von Barcelona oder das Gewirr der Gassen im gotischen Viertel spazierengingen, und sehnte sich danach. Nein, es wäre unvorsichtig, ungeschickt, dumm, bei dem in Rom gefaßten Entschluß zu bleiben, damit würde er einen gleichen oder noch schlimmeren Ausbruch in der Zukunft vorbereiten. Mit bitterem Spott dachte oder träumte er: Es hilft nichts, Galileo, du mußt Unzucht treiben.
    Er dachte an Jurema. War sie ein denkendes Wesen? Eher ein Haustier. Fleißig, unterwürfig, imstande zu glauben, daß Figuren des heiligen Antonius aus den Kirchen in die Grotten liefen, in denen sie geschnitzt worden waren. Wie die anderen Sklavinnen des Barons war sie dazu abgerichtet worden, Hühner und Schafe zu halten, für den Mann zu kochen, seine Wäsche zu waschen und die Beine nur für ihn aufzumachen. Er dachte: Vielleicht erwacht sie jetzt aus ihrer Lethargie und entdeckt die Ungerechtigkeit. Er dachte: Deine Ungerechtigkeit bin ich. Er dachte: Vielleicht hast du ihr einen Dienst erwiesen. Er dachte an die Männer, die ihn überfallen und den Karren mitgenommen hatten, und an die zwei, die er getötet hatte. Waren es Leute des Ratgebers? Hatte der von der Lohgerberei in Queimadas sie geschickt, dieser Pajeú? Er schlief nicht, er träumte nicht, lag aber weiterhin still mit geschlossenen Augen da. War es nicht natürlich, daß er, dieser Pajeú, ihn hatte überwachen lassen, weil er ihn für einen Spion der Streitkräfte oder für einen auf unlautere Geschäfte erpichten Händler hielt und, als er Waffen bei ihm gefunden, danach gegriffen hatte, um Canudos damit zu versorgen? Wäre es nur so! Wären diese Gewehre jetzt nur unterwegs zu den Jagunços und machten sie stark für das, was auf sie zukam. Warum hätte Pajeú ihm Vertrauen schenken sollen? Welches Vertrauen konnte ihm ein Ausländer einflößen, der seine Sprache schlecht sprach und unverständliche Ideen hatte? Du hast zwei Genossen getötet, Gall, dachte er. Er war wach: Diese Hitze, das ist dieMorgensonne, dieses Läuten, das sind die Schafsglocken. Und wenn sie gewöhnlichen Straßenräubern in die Hände gefallen waren? Sie konnten vergangene Nacht ihm und dem Mann im Lederzeug gefolgt sein, als sie die Waffen, die Epaminondas Gonçalves ihnen ausgehändigt hatte, von der Fazenda fortschafften. Hieß es nicht, es wimmele hier von Cangaceiros? Er dachte: Ich hätte die Waffen abladen, sie ins Haus bringen sollen. Er dachte: Dann wäre ich jetzt tot und sie hätten sie trotzdem. Zweifel befielen ihn: Sollte er nach Bahia zurück? Sollte er doch nach Canudos? Sollte er die Augen aufmachen? Aufstehen? Sollte er endlich der Wirklichkeit ins Auge sehen? Er hörte die Schafsglocken, er hörte Gebell und hörte jetzt auch Schritte und eine Stimme.

VII
    Als die Kolonnen der Expedition des Majors Febrônio de Brito und die Handvoll Soldatenliebchen, die ihnen immer noch folgten, in der Ortschaft Mulungú, zwei Wegstunden vor Canudos, zusammentrafen, waren sie ohne Lastträger und ohne Führer. Die Spurenleser, die sie in Queimadas und Monte Santo angeworben

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