Der Krieg am Ende der Welt
ohne sich von der Stelle zu rühren: »Komm und binde ihn los.« Der Klempner wandte sich um und sah ihn starr vor Staunen an. »Du mußt ihn selbst losbinden«, herrschte der im violetten Gewand ihn an, in einem Ton, der die Leute erschauern ließ. »Willst du, daß deine Tochter in die Hölle kommt? Sind die Flammen dort nicht heißer, brennen sie nicht länger als die, die du entfachen willst?« brüllte er wieder wie aus Entsetzen über soviel Torheit. »Abergläubischer, gottloser, sündiger Mensch«, wiederholte er. »Bereue, was du tun wolltest, komm und binde ihn los und bitte ihm ab und bete zum Vater, damit er nicht um deiner Feigheit und Bosheit und Kleingläubigkeit willen deine Tochter dorthin schickt, wo der Teufel herrscht.« Und so beschimpfte und bedrängte er ihn underschreckte ihn mit dem Gedanken, daß Almudia durch seine Schuld in die Hölle käme. So lange, bis die Dörfler sahen, wie Zósimo, statt auf ihn zu schießen oder mit dem Messer auf ihn loszugehen oder ihn mitsamt dem Monstrum zu verbrennen, ihm gehorchte und schluchzend auf die Knie fiel und den Vater, den guten Jesus, den Heiligen Geist und die Jungfrau anflehte, die kleine Seele Almudias nicht in die Hölle zu schicken.
Als der Ratgeber nach Mocambo aufbrach, nachdem er zwei Wochen betend und predigend, die Notleidenden tröstend und die Gesunden beratend, im Ort geblieben war, hatte Natuba eine Ziegelmauer um den Friedhof und neue Kreuze auf allen Gräbern. Seine Gefolgschaft aber hatte sich um ein halb tierisches, halb menschliches Wesen vermehrt. Während sich die Pilger, ein dunkler Fleck auf der von Mandacarús überwucherten Erde, entfernten, sah man es zwischen den Zerlumpten, trottend wie ein Pferd, eine Ziege, ein Maultier.
Dachte er, träumte er? Ich bin draußen vor Queimadas, es ist Tag, das ist die Hängematte Rufinos. Alles andere war verworren. Vor allem dieses Zusammentreffen von Umständen, die an diesem frühen Morgen einmal mehr sein Leben umgekrempelt hatten. Im Halbschlaf dauerte der Schrecken an, der sich im Schlaf nach dem Liebesakt seiner bemächtigt hatte.
Ja, für einen, der glaubte, das Schicksal sei zu einem guten Teil angeboren und eingeschrieben in die Gehirnmasse und ließe sich ablesen von einer geschickten Hand und einem scharfen Auge, für einen solchen war es hart, am eigenen Leib die Existenz des Unvorhersehbaren zu erfahren, das andere unter grauenhafter Mißachtung des eigenen Willens, der persönlichen Fähigkeiten herbeiführen konnten. Wie lange hatte er hier gelegen? Die Müdigkeit jedenfalls war verschwunden. War auch die Frau verschwunden? Hatte sie Hilfe gesucht und Leute geholt, die ihn festnehmen würden? Er dachte oder träumte: Ein Unglück kommt selten allein. Er stellte fest, daß er sich belog. Es stimmte nicht: diese Unruhe, dieser Schrecken kamen nicht daher, daß er Rufino nicht getroffen hatte, daß er beinahe umgebracht worden wäre, daß er diese zwei Männer getötet hatte und ihm die Waffen, die er nach Canudos bringen wollte,gestohlen worden waren. Es war dieser jähe, unbegreifliche, unbezwingbare Ansturm der Lust, der bewirkt hatte, daß er Jurema vergewaltigte, nachdem er zehn Jahre lang keine Frau angerührt hatte. Er war es, der an Galileo Galls Halbschlaf nagte.
In seiner Jugend hatte er die eine oder andere Frau geliebt, er hatte Genossinnen gehabt – Frauen, die für dieselben Ideale kämpften wie er – und war ein Stück Weg mit ihnen gegangen; in Barcelona hatte er mit einer Arbeiterin zusammengelebt, die damals beim Überfall auf die Kaserne schwanger gewesen war und von der er nach seiner Flucht aus Spanien erfuhr, sie habe einen Bäcker geheiratet. Aber die Frau nahm im Leben Galls keinen vorherrschenden Platz ein, nicht wie die Wissenschaft oder die Revolution. Wie die Nahrung war auch das Geschlecht für ihn etwas gewesen, das ein lebenswichtiges Bedürfnis befriedigte und danach Überdruß hervorrief. Den geheimsten Entschluß seines Lebens hatte er vor zehn Jahren gefaßt. Oder waren es elf? Oder zwölf? Die Daten tanzten in seinem Kopf, der Ort nicht: Rom. Dort war er nach der Flucht aus Barcelona in der Wohnung eines Apothekers untergetaucht, der für die anarchistische Presse schrieb und auch das Gefängnis schon kennengelernt hatte. Gall hatte die Bilder noch lebhaft im Gedächtnis: Zuerst war es nur eine Vermutung gewesen, dann bekam er die Bestätigung: dieser Genosse las am Kolosseum Prostituierte auf, brachte sie nach Hause, wenn er, Gall,
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