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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Wegstunde weit, die widersprüchliche, aus Strohdächern und zwei sehr hohen steinernen Kirchtürmen bestehende Geographie dessen, was sie bereits als ihre Siegesbeute betrachteten. Während die überlebenden Jagunços in Canudos einzogen – ihre Ankunft rief Verstörung, aufgeregtes Reden, Weinen, Schreie, dumpfe Gebete hervor –, ließen sich die Soldaten auf den Boden fallen, knöpften ihre rot-blauen, grün-blauen Feldblusen auf, zogen ihre Gamaschen aus und waren so erschöpft, daß sie sich nicht einmal mehr sagen konnten, wie glücklich sie über die Niederlage des Feindes waren. Im Kriegsrat beschlossen Major Febrônio de Brito und seine vierzehn Offiziere, auf dieser kahlen Hochebene zu kampieren, neben dem nicht vorhandenen See, der auf der Landkarte als Cipó verzeichnet war und der von diesem Tag an der Blutsee heißen sollte. Am nächsten Morgen im ersten Licht würden sie den Schlupfwinkel der Fanatiker stürmen.
    Doch kaum eine Stunde später, als Offiziere, Feldwebel und Gefreite noch die maroden Kompanien durchgingen, die Listen der Toten, Verwundeten und Vermißten aufstellten und zwischen den Felsen immer noch Soldaten der Nachhut hervorkamen, wurden sie selber gestürmt. Gesunde und Kranke, Männer und Frauen, Kinder und Alte, alle kampffähigen Auserwählten fielen über sie her wie eine Lawine. João Abade hatte sie überzeugt, genau jetzt und genau hier müßten sie den Feind angreifen, alle gemeinsam, denn wenn sie es jetzt nicht täten, gebe es kein Nachher. Ein aufgeregter Haufe, waren sie hinter ihm hergezogen und wie eine wildgewordene Kuhherde über die Hochebene gestürmt. Sie waren bewaffnet mit allen Bildern des guten Jesus, der Mutter Gottes, des Heiligen Geistes, die es in der Stadt gab, sie schwangen sämtliche Knüppel, Stecken, Sicheln, Gabeln, Jagdmesser und Macheten von Canudos, dazu Araberflinten, Karabiner, Musketen, sowie die in Uauá eroberten Mannlicher, und während sie nun ihre Kugeln, Metallstücke, Nägel, Dolche, Steine verschossen, stießen sie gellende Schreieaus, besessen von jenem verwegenen Mut, der die Luft ist, die der Sertanejo von Geburt an atmet, und der nun vervielfältigt war von der Liebe zu Gott und dem Haß auf den Fürsten der Finsternis, die der Heilige ihnen einzuflößen verstanden hatte. Sie ließen den Soldaten keine Zeit, die namenlose Verblüffung über den plötzlichen Anblick dieser schreienden Männer und Frauen abzuschütteln, die auf sie zurannten, als ob sie nicht schon besiegt wären. Als der Schrecken sie aufweckte und wachrüttelte, auf die Beine brachte und sie nach ihren Waffen griffen, war es zu spät. Schon waren die Jagunços über ihnen, zwischen ihnen, hinter ihnen, vor ihnen, schießend, stechend, steinigend, und durchbohrten sie und bissen sie und rissen ihnen Gewehre und Patronentaschen weg und rissen ihnen Haar und Augen aus und vor allem – verfluchten sie mit den ausgefallensten Wörtern, die sie je gehört hatten. Verwirrt wie sie waren, halb verrückt, entsetzt von diesem plötzlichen, sinnwidrigen Ansturm, der nicht mehr menschlich schien, dämmerte erst den einen, dann den andern der Gedanke an Flucht. In der Dunkelheit, die anbrach, nachdem die Feuerkugel hinter den Bergen untergegangen war, zerstreuten sie sich, allein oder in Gruppen, über die Abhänge des Cambaio, dieselben, die sie einen vollen Tag lang unter solchen Mühen erstiegen hatten; in alle Richtungen liefen sie auseinander, stolpernd, wieder aufstehend, ihre Uniformen in Fetzen reißend in der Hoffnung, unerkannt durchzukommen, und betend, daß es Nacht würde, dunkel.
    Alle hätten sie sterben können, so daß keiner, weder Offizier noch Linienschütze, übriggeblieben wäre, um der Welt die Geschichte dieser schon gewonnenen und plötzlich wieder verlorenen Schlacht zu berichten; jeder einzelne dieses halben Tausends geschlagener Männer, die ziellos und verschreckt und verwirrt dahinrannten, hätte verfolgt, aufgespürt, gehetzt und niedergemacht werden können, wenn die Sieger gewußt hätten, daß die Logik des Krieges die völlige Vernichtung des Gegners verlangt. Doch die Logik der Auserwählten des guten Jesus war nicht von dieser Welt. Der Krieg, den sie führten, war nur dem Schein nach ein Krieg der äußeren Welt, ein Krieg der Uniformierten gegen die Zerlumpten, der Küste gegen das Landesinnere, des neuen Brasilien gegen das traditionelleBrasilien. Alle Jagunços waren sich dessen bewußt, daß sie nur Marionetten waren in einem tiefen,

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