Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
sich in einen Oberleutnant, er war voller Wunden. Sie zeigte ihn mir – da liegt er. Na, ich beschloss natürlich, mich auch in ihn zu verlieben. Als er weggebracht wurde, bat er mich um ein Foto. Ich besaß ein Foto, wir hatten uns auf der Bahnstation mal fotografieren lassen. Ich holte es, um es ihm zu geben, aber dann dachte ich: Vielleicht ist es ja gar keine Liebe, und ich schenke ihm einfach ein Foto? Er wurde schon fortgetragen, ich streckte ihm die Hand hin, ich hielt das Foto in der Faust, aber ich konnte mich nicht entschließen, es ihm zu geben. Das war die ganze Liebe ...
Dann kam Pawlik, ein Leutnant. Er hatte heftige Schmerzen, und ich legte ihm eine Tafel Schokolade unters Kopfkissen. Als wir uns wiedertrafen, das war schon nach dem Krieg, nach zwanzig Jahren, da bedankte er sich bei meiner Freundin Lilja Drosdowa für die Schokolade. Lilja sagte: ›Was für eine Schokolade?‹ Da gestand ich, dass ich das gewesen war. Und er küsste mich. Nach zwanzig Jahren hat er mich geküsst ...«
Swetlana Nikolajewna Ljubitsch , Sanitätshelferin
»Einmal nach einem Konzert ... In einem großen Evakuierungslazarett ... Da kam der Chefarzt zu mir und sagte: ›Wir haben hier in einem Einzelzimmer einen schwer verwundeten Panzersoldaten liegen. Er reagiert kaum, vielleicht hilft ihm Ihr Gesang.‹ Ich ging in das Krankenzimmer. Solange ich lebe, werde ich diesen Mann nicht vergessen, der wie durch ein Wunder aus einem brennenden Panzer herausgekommen und von Kopf bis Fuß verbrannt war. Steif ausgestreckt lag er auf dem Bett, das Gesicht ganz schwarz, ohne Augen. Es schnürte mir die Kehle zusammen, ich brauchte eine Weile, bis ich mich wieder in der Gewalt hatte. Dann begann ich leise zu singen ... Ich bemerkte, dass sich im Gesicht des Verwundeten etwas regte ... Er flüsterte etwas. Ich beugte mich zu ihm hinunter und hörte ihn sagen: ›Singen Sie noch etwas ...‹ Ich sang weiter und weiter, mein ganzes Repertoire, bis der Chefarzt sagte: ›Ich glaube, er ist eingeschlafen ...‹«
Lilija Alexandrowna , Schauspielerin
»Unser Bataillonskommandeur und die Krankenschwester Ljuba Silina ... Sie haben sich so geliebt! So sehr! Das sahen alle. Wenn er ins Gefecht ging, wollte sie immer mit. Sie sagte, sie würde es sich nicht verzeihen, wenn er nicht vor ihren Augen fiele, wenn sie seinen Tod, seine letzte Minute nicht miterleben würde. ›Am besten‹, wünschte sie sich, ›wir werden zusammen getötet. Von derselben Granate getroffen.‹ Sie wollten zusammen sterben oder zusammen überleben. Unsere Liebe unterschied nicht zwischen gestern und heute, sie kannte nur ein Heute. Jeder wusste: Ich liebe jetzt, im nächsten Augenblick kann der andere schon nicht mehr sein. Im Krieg herrscht eine andere Zeit. Die Zeit fließt anders ...
Bei einem Gefecht wurde der Bataillonskommandeur schwer verwundet, Ljuba aber hatte nur einen leichten Streifschuss abbekommen. Er wurde ins Hinterland geschickt, sie blieb. Sie war schon schwanger, und er hatte ihr einen Brief gegeben: ›Fahr zu meinen Eltern. Egal, was mit mir passiert – du bist meine Frau. Und das Kind ist unser Sohn oder unsere Tochter.‹
Später schrieb mir Ljuba: Seine Eltern nahmen sie mit dem Kind nicht auf, sie warfen sie raus. Der Bataillonskommandeur war gestorben.
Ich beneidete sie trotzdem. Trotz allem war sie glücklich gewesen ...
Im Krieg geschieht alles schneller: Leben und Tod. Es ist eine andere Zeitrechnung. In wenigen Jahren haben wir ein ganzes Leben gelebt. Alle Gefühle durchlebt ...«
Nina Leonidowna Michai , Feldwebel,
Krankenschwester
»Tag des Sieges ...
Wir versammelten uns zu unserem traditionellen Treffen. Ich komme aus dem Hotel, da sagen die Mädchen zu mir: ›Wo warst du denn, Lilja? Wir haben so geweint.‹
Sie erzählen, ein Mann habe sie angesprochen, ein Kasache: ›Woher seid ihr, Mädchen? Aus welchem Lazarett?‹
›Wen suchen Sie denn?‹
›Ich komme jedes Jahr her und suche eine Schwester. Sie hat mir das Leben gerettet. Ich habe sie geliebt. Ich will sie wiederfinden.‹
Meine Mädchen haben gelacht: ›Na, die Schwester, die du suchst, die ist inzwischen eine alte Oma.‹
›Nein ...‹
›Du hast doch bestimmt schon eine Frau? Und Kinder?‹
›Ich habe Enkel, Kinder und eine Frau. Aber meine Seele habe ich verloren. Ich habe keine Seele mehr ...‹
Das erzählten mir die Mädchen, und dann überlegten wir: Vielleicht war das mein Kasache?
Eines Tages wurde ein junger Kasache eingeliefert.
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