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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Schicksal selbst noch nicht entschlüsselt ... Ich habe angefangen, an Gott zu glauben. Gebete erklären mir zwar nichts, aber sie trösten mich. Ich bete mit meinen eigenen Worten ...
    Ich erinnere mich an einen Ausspruch meiner Mutter. Sie sagte immer: ›Die Kugel ist dumm und das Schicksal böse.‹ Ihr Lieblingsausspruch für jedes Unglück. Die Kugel ist allein und der Mensch ist allein. Die Kugel fliegt, wohin sie will, und das Schicksal schleudert den Menschen, wohin es will. Hierhin und dorthin, hierhin und dorthin. Der Mensch ist eine Feder, eine Spatzenfeder. Er weiß nie, was die Zukunft bringt. Das ist uns nicht gegeben. Eine Zigeunerin hat mir geweissagt, als wir aus dem Krieg heimkehrten. Auf einer Bahnstation unterwegs ... Sie kam zu mir. Versprach mir eine große Liebe ... Ich besaß eine Uhr, die hab ich ihr gegeben, für die große Liebe ... Ich habe ihr geglaubt ...
    Und heute kann ich nicht genug weinen über diese Liebe ...
    Ich war fröhlich in den Krieg gezogen. Auf Komsomolzenart. Zusammen mit allen anderen. Ich absolvierte eine Scharfschützenausbildung. Ich hätte auch zu den Nachrichtentruppen gehen können, das ist ein nützlicher Beruf – für den Krieg und für den Frieden. Ein weiblicher Beruf. Aber es hieß, wir müssen schießen, also lernte ich schießen. Ich schoss gut. Ich habe zwei Ruhmesorden und vier Medaillen bekommen. In drei Jahren Krieg.
    Heute kann ich das selbst nicht mehr glauben. Meine Hände zittern. Ich kriege keinen Faden mehr durchs Nadelöhr ...
    Sie riefen uns zu: Sieg! Verkündeten: Sieg! Ich erinnere mich, mein erstes Gefühl war Freude. Und gleich darauf, im selben Moment – Angst! Panik! Panik! Wie weiterleben? Mein Vater ist bei Stalingrad gefallen. Meine beiden älteren Brüder sind zu Kriegsbeginn verschollen. Ich war allein mit meiner Mutter. Zwei Frauen. Was sollten wir tun? Das beschäftigte uns Mädchen sehr ... Wir versammelten uns abends im Unterstand und schwiegen. Jede dachte an die Zukunft. Daran, dass unserLeben jetzt erst anfing ... Das richtige Leben ... Wir fühlten Freude und Angst. Früher hatten wir Angst vorm Tod, nun vor dem Leben. Diese Angst war genauso groß. Das bekenne ich ... Aufrichtig ...
    Würden wir heiraten oder nicht? Aus Liebe oder ohne Liebe? Wir zupften Blütenblätter aus ... Warfen Blumenkränze in den Fluss, gossen Orakel aus Kerzenwachs ... Ich weiß noch, in einem Dorf sagte man uns, da wohne eine Hexe. Wir liefen alle zu ihr, sogar unser Kommandeur. Und die Mädchen sowieso alle. Sie las die Zukunft aus Wasser ... Aus der Hand ... Ein andermal zogen wir bei einem Leierkastenmann Lose. Glückslose ...
    Wie wurden wir in der Heimat empfangen? Das kann ich nicht ohne Tränen ... Das ist jetzt vierzig Jahre her, aber mir brennen noch heute die Wangen. Die Männer schwiegen, aber die Frauen ... Sie schrien uns an: ›Wir wissen genau, was ihr dort gemacht habt! Ihr habt dort mit unseren Männern geschlafen. Frontschlampen! Soldatenflittchen ...‹ Sie beleidigten uns auf jede mögliche Art ...
    Einmal brachte mich ein junger Mann vom Tanz nach Hause, und plötzlich wurde mir schlecht, mein Herz machte schlapp. Mitten auf dem Weg setzte ich mich in eine Schneewehe. ›Was ist mit dir?‹ – ›Ach, nichts weiter. Zu viel getanzt.‹ Aber das war der Krieg. Meine beiden Verwundungen, eine davon schwer – die Kugel ging knapp am Herzen vorbei. Der Zufall hat mich gerettet. Ich habe mich genau in dem Moment ein Stück zur Seite bewegt. Ein paar Zentimeter ... Zufall ... Und meine Mutter hat für mich gebetet ... Ich wollte gern schwach sein und zierlich, aber von den Stiefeln waren meine Füße grob und breit geworden – Schuhgröße vierzig. Es war ungewohnt, umarmt zu werden. Ich war gewöhnt, für mich selbst verantwortlich zu sein. Ich sehnte mich nach zärtlichen Worten ... Aber ich verstand sie nicht, sie kamen bei mir nicht an. An der Front, unter lauter Männern, herrschten deftige russische Flüche. Meine Freundin, sie war nicht im Krieg, sie arbeitete in der Bibliothek, riet mir: ›Lies Gedichte. Lies Jessenin.‹
    Heiraten ... Ich habe schnell geheiratet. Nach einem Jahr. Einen Ingenieur aus unserem Betrieb. Seine Mutter wusste nicht, dass ich an der Front war, das hielten wir vor ihr geheim. Ich träumte von Liebe. Von der großen Liebe. Aber noch mehr wünschte ich mir Zärtlichkeit, zärtliche Worte. Ein Zuhause und eine Familie. Dass es im Haus nach Windeln roch. An den ersten Windeln habe ich dauernd

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