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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Ein ganz junger Kerl, ein halbes Kind. Wir operierten ihn. Er hatte sieben oder acht Risse im Darm. Er galt als hoffnungslos. Und er lag so teilnahmslos da, dass er mir sofort auffiel. In jeder freien Minute lief ich zu ihm: ›Na, wie geht’s?‹ Ich hab ihm eigenhändig Spritzen gegeben und Fieber gemessen, und langsam rappelte er sich auf. Kam wieder zu Kräften. Wir behielten die Verwundeten nicht lange bei uns, wir waren ja direkt an der Front. Wir leisteten erste Nothilfe, entrissen sie dem Tod, dann schickten wir sie weiter. Eines Tages sollte auch er mit einem Transport wegfahren.
    Er lag auf der Trage, und mir wurde ausgerichtet, dass er nach mir fragte.
    ›Schwester, komm mal her.‹
    ›Was ist? Was willst du? Es ist alles gut. Du wirst ins Hinterland geschickt. Alles wird gut. Du kannst sicher sein, du wirst leben.‹
    Er bat: ›Ich habe eine große Bitte, meine Eltern haben nur mich. Du hast mich gerettet.‹ Und er gibt mir einen Ring, einen winzig kleinen Ring.
    Ich trug keine Ringe, ich mochte keine. Ich lehnte ab: ›Ich kann nicht. Ich kann nicht.‹
    Er bettelte. Die Verwundeten unterstützten ihn.
    ›Nun nimm ihn schon, er meint es doch von Herzen.‹
    ›Ich hab doch nur meine Pflicht getan, versteht ihr?‹
    Schließlich überredeten sie mich. Allerdings verlor ich den Ring später. Er war mir zu groß, und als ich mal im Auto eingeschlafen war, rutschte er mir bei der holprigen Fahrt vom Finger. Das hat mir sehr leidgetan.«
    »Haben Sie den Mann wiedergefunden?«
    »Nein, wir sind uns nicht begegnet. Wer weiß – vielleicht war er das ja? Die Mädchen und ich haben den ganzen Tag vergebens nach ihm gesucht.
    Sechsundvierzig kam ich zurück nach Hause. Sie fragten mich: ›Wirst du Uniform tragen oder Zivil?‹ – ›Natürlich Uniform! Ich denke gar nicht daran, sie auszuziehen.‹ Am Abend ging ich zum Tanz ins Haus der Offiziere. Und jetzt werden Sie gleich hören, wie Mädchen in Uniform behandelt wurden.
    Ich gab Stiefel und Uniformmantel an der Garderobe ab und zog Kleid und Schuhe an.
    Ein Offizier forderte mich zum Tanz auf.
    ›Sie sind bestimmt nicht von hier‹, sagte er. ›So ein kultiviertes Mädchen.‹
    Er wich den ganzen Abend nicht von meiner Seite. Ließ mich nicht los. Als der Tanz aus war, sagte er: ›Geben Sie mir Ihre Garderobenmarke.‹
    Er ging vor. In der Garderobe gab man ihm die Stiefel und den Uniformmantel.
    ›Das gehört mir nicht ...‹
    Ich trat dazu.
    ›Nein, das gehört mir.‹
    ›Aber Sie haben mir gar nicht gesagt, dass Sie an der Front waren.‹
    ›Haben Sie mich denn danach gefragt?‹
    Er war verwirrt. Wagte nicht, mich anzusehen. Dabei war er selber gerade erst aus dem Krieg heimgekehrt.
    ›Warum wundert Sie das so?‹
    ›Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Sie bei der Armee waren. Ein Frontmädchen, verstehen Sie ...‹
    ›Sie wundern sich, dass ich allein bin, ja? Ohne Mann und nicht schwanger?‹
    Ich ließ mich nicht von ihm nach Hause bringen.
    Ich war immer stolz darauf, dass ich an der Front war. Dass ich die Heimat verteidigt habe ...«
    Lilija Michailowna Butko , Chirurgie-Schwester
    »Mein erster Kuss ...
    Unterleutnant Nikolai Belochwostik ... Ich dachte ... Ich war überzeugt: Keiner in der Kompanie ahnt, dass ich in ihn verliebt bin. Bis über beide Ohren. Auch er selber nicht. Meine erste Liebe ...
    Wir begruben ihn ... Er lag auf einer Zeltplane, er war gerade erst getötet worden. Wir mussten uns beeilen. Die Deutschen schlossen uns ein. Bombardierten uns. Wir fanden einen Baum ... Eine alte Birke, ein Stück abseits vom Weg. Ich bemühte mich, sie mir einzuprägen, um den Platz später wiederzufinden. Ihn nicht zu verlieren. Nein ... Nicht ... Ich wollte noch etwas sagen ... Ich hab’s vergessen. Ich bin aufgeregt. Sehr aufgeregt ...
    Wir nahmen Abschied. Sie sagten zu mir: ›Du zuerst!‹ Ich begriff ... Alle wussten von meiner heimlichen Liebe. Vielleicht auch er. Da lag er nun ... Aber er war nicht mehr ... Trotzdem freute ich mich, dass er es vielleicht auch gewusst hatte. Und dass ich ihm auch gefiel. Mir fiel ein, wie er mir zu Neujahr eine Tafel deutsche Schokolade geschenkt hatte ...
    Ich trat zu ihm und küsste ihn. Ich hatte noch nie einen Mann geküsst, den ich liebte. Er war der Erste ...«
    Ljubow Michailowna Grosd , Sanitätsinstrukteurin

Von der Einsamkeit der Kugel und des Menschen
    »Meine Geschichte ist ein Einzelfall ... Die erzähle ich niemandem ... Was kann ich da schon erklären? Ich habe mein

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