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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Ausnahme. Sie waren doch noch so jung, so gut! Wir wollten sie begraben, wir neun, bei denen sie gelebt hatten. Fünf zogen sie aus der Grube, vier passten auf, ob auch keine Deutschen kamen. Anfassen konnten wir sie nicht, es war die schlimmste Hitze, und sie lagen schon vier Tage da ... Und mit Spaten hätten wir sie beschädigen können ... Wir legten sie auf ein Tischtuch und zogen sie raus. Wir banden uns die Nase zu, halfen uns mit Wasser. Damit wir selber nicht umfielen ... Im Wald gruben wir ein Grab, legten sie nebeneinander ... Deckten ihnen den Kopf mit Laken zu ... Die Füße ...
    Ein Jahr lang konnten wir uns nicht beruhigen, so lange beweinten wir sie. Und jede dachte: Wo ist wohl mein Mann, mein Sohn? Sind sie noch am Leben? Denn aus dem Krieg kommen sie zurück, aber aus der Erde nie mehr ...«
    »Mein Mann war gut, herzensgut. Wir haben nur anderthalb Jahre zusammengelebt. Als er ging, trug ich ein Kind unterm Herzen. Aber er hat das Mädchen nicht mehr gesehen, er war schon weg, als es geboren wurde. Er ging im Sommer, und im Herbst kam sie zur Welt.
    Ich stillte sie noch, sie war noch kein Jahr alt. Ich saß gerade auf dem Bett und stillte, da klopfte jemand ans Fenster: ›Lena, es ist ein Papier gekommen ... Wegen deinem Mann ...‹ (Die Frauen hatten den Postboten nicht reingelassen, sie wollten es mir selbst sagen.) Ich stand auf, das Kind auf dem Arm, und die Milch spritzte in hohem Bogen auf die Erde. Die Kleine fing an zu schreien – vor Schreck. Danach nahm sie die Brust nicht mehr. Es war Palmsonntag, als ich es erfuhr. April, die Sonne wärmte schon. In dem Papier stand, mein Iwan sei in Polen gefallen. Bei der Stadt Gdansk sei sein Grab. Am siebzehnten März fünfundvierzig ... So ein kleines, dünnes Papier ... Wir warteten schon auf den Sieg, bald würden unsere Männer heimkehren ... Die Gärten blühten ...
    Meine Kleine war nach diesem Schreck lange krank, bis sie in die Schule kam. Wenn eine Tür heftig zuschlug oder jemand laut schrie, dann war sie gleich krank. Sie weinte nachts. Ich hatte es lange sehr schwer mit ihr, sieben Jahre lang hab ich keine Sonne gesehen, auch wenn sie schien. Vor meinen Augen war alles schwarz.
    Dann hieß es: Sieg! Die Männer kehrten heim. Aber es kamen weniger zurück, als wir verabschiedet hatten. Nicht einmal die Hälfte. Mein Bruder Jusik kam als Erster. Allerdings als Krüppel. Er hatte eine kleine Tochter, so alt wie meine. Vier, fünf ... Meine Tochter ging immer zu ihnen spielen, aber einmal kam sie weinend nach Hause gelaufen: ›Da geh ich nicht mehr hin.‹ – ›Aber warum weinst du denn?‹, fragte ich. ›Oletschka (so hieß die Kleine) kann bei ihrem Papa auf den Knien sitzen, der hat sie lieb. Aber ich habe keinen Papa. Ich habe nur eine Mama.‹ Wir umarmten uns ...
    So ging das zwei, drei Jahre. Einmal kam sie von draußen reingerannt: ›Darf ich drinnen spielen? Wenn Papa kommt, und ich spiele draußen mit den anderen Kindern, dann erkennt er mich gar nicht. Er hat mich doch noch nie gesehen.‹ Ich konnte sie nicht überreden, rauszugehen zu den anderen Kindern. Tagelang saß sie zu Hause. Wartete auf ihren Papa. Aber unser Papa ist nicht zurückgekommen.«
    »Als meiner an die Front ging, da hat er sehr geweint, weil er seine kleinen Kinder verlassen musste. Geweint und geklagt. Die Kinder waren noch ganz klein, sie begriffen noch gar nicht, dass sie einen Papa hatten. Es waren alles Jungen. Den Kleinsten trug ich noch auf dem Arm. Er nahm ihn, drückte ihn fest an sich. Ich lief hinterher, jemand rief schon: ›In Marschkolonne antreten!‹ Aber er konnte sich nicht von dem Kind trennen. Stellte sich mit dem Kind auf dem Arm in die Kolonne. Der Offizier brüllte ihn an, und er machte mit seinen Tränen das Kind nass. Die ganzen Windeln. Ich lief mit den Kindern hinterher, raus aus dem Dorf, bestimmt fünf Kilometer. Andere Frauen auch. Meine Kinder stolperten, und ich konnte den Kleinen kaum noch tragen. Wolodja, mein Mann, drehte sich immer wieder um, und ich lief und lief ... Als Letzte ... Die Kinder waren irgendwo unterwegs zurückgeblieben ... Ich lief allein weiter, mit dem Kleinen auf dem Arm ...
    Nach einem Jahr kam ein Papier: Ihr Mann Wladimir Grigorowitsch ist in Deutschland gefallen, kurz vor Berlin. Ich kenne nicht einmal sein Grab. Ein Nachbar kam zurück, heil und gesund, ein anderer mit nur einem Bein. Da war ich so traurig: Wenn meiner doch auch wiederkäme, meinetwegen ohne Beine, aber am Leben. Ich würde

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