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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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sagte er, könne nicht so oft genau den Kopf treffen. So präzise. ›Zeigen Sie mir‹, bat er, ›den Schützen, der so viele meiner Soldaten getötet hat. Ich habe Verstärkung bekommen, aber jeden Tag sind bis zu zehn Mann wieder ausgefallen.‹ Darauf der Regimentskommandeur: ›Den kann ich Ihnen leider nicht mehr zeigen, das war eine junge Scharfschützin, aber sie ist gefallen.‹ Das war Sascha Schljachowa. Sie starb bei einem Scharfschützenduell. Ihr roter Schal wurde ihr zum Verhängnis. Sie liebte diesen Schal sehr. Aber ein roter Schal fällt im Schnee auf, verrät die Tarnung. Als der deutsche Offizier hörte, dass der Schütze ein Mädchen war, war er erschüttert. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Beim letzten Verhör, bevor er nach Moskau gebracht wurde (wie sich herausstellte, war er ein hohes Tier!), sagte er: ›Ich verstehe überhaupt nichts ... Sie sind alle so hübsch. Und unsere Propaganda behauptet, in der Roten Armee kämpften keine Frauen, sondern Hermaphroditen ...‹ Er hat nichts verstanden.
    Wir gingen immer paarweise, allein ist das Dasitzen von Dunkelheit zu Dunkelheit schwer, die Augen werden müde, man spürt die Arme nicht mehr, der Körper wird vor Anstrengung ganz taub. Kurz vorm Frühling ist es besonders schlimm. Der Schnee, der taut unter dir, und du sitzt den ganzen Tag im Wasser. Schwimmst förmlich. Sobald der Morgen graute, zogen wir los, und mit Einbruch der Dunkelheit kamen wir zurück von der vordersten Linie. Zwölf Stunden, manchmal mehr, lagen wir im Schnee oder hockten auf einem Baum, auf dem Dach einer Scheune oder eines zerstörten Hauses und tarnten uns dort, damit niemand uns auf unserem Beobachtungsposten entdeckte. Wir versuchten, möglichst dicht ranzukommen: sieben- oder achthundert, manchmal nur fünfhundert Meter entfernt von den Schützengräben, in denen die Deutschen saßen. Frühmorgens hörten wir sie sogar reden. Und lachen.
    Ich weiß nicht, warum wir keine Angst hatten ... Heute begreife ich das nicht mehr. Wir hatten vor nichts Angst.
    Wir rückten vor, sehr rasch rückten wir vor. Schließlich ging uns die Puste aus, die Versorgung kam nicht hinterher: Wir hatten keine Munition mehr, keine Lebensmittel, selbst die Küche war von einer Granate zerstört worden. Wir aßen den dritten Tag nichts als Zwieback, unsere Zungen waren so wundgescheuert, dass wir sie kaum bewegen konnten. Meine Partnerin war getötet worden, und ich ging mit einer Neuen in die vorderste Linie. Plötzlich sehen wir im ›Niemandsland‹ ein Fohlen. Ein schönes Tier mit buschigem Schweif. Es grast friedlich vor sich hin, als wäre nichts weiter, als wäre kein Krieg. Auch die Deutschen, hören wir, geraten in Bewegung, sie haben es ebenfalls bemerkt. Unsere Soldaten überlegen schon: ›Es entwischt uns. Schade, hätte ein schönes Süppchen gegeben ...‹ – ›Mit der MP ist auf die Entfernung nichts zu machen.‹ Dann bemerken sie uns.
    ›Scharfschützen! Die werden es gleich ... Los, Mädels!‹
    Was tun? Ich kam gar nicht zum Überlegen, zielte ganz automatisch und schoss. Dem Fohlen knickten die Beine ein, es fiel auf die Seite. Und wieherte, der Wind trug es zu uns herüber – ganz hoch und dünn war der Ton.
    Erst hinterher reagierte ich: Warum habe ich das getan? Es war so schön, und ich habe es getötet, für eine Suppe! Hinter mir hörte ich ein Schluchzen. Ich drehte mich um – die Neue.
    ›Was hast du?‹, frage ich.
    ›Das Fohlen tut mir leid ...‹ Sie hat Tränen in den Augen.
    ›Ach, wie sensibel! Wir haben seit drei Tagen nichts zu essen. Es tut dir leid, weil du noch niemanden beerdigt hast. Aber marschier mal dreißig Kilometer am Tag mit voller Ausrüstung, und dann auch noch hungrig. Erst müssen wir die Fritzen verjagen, dann können wir weich sein. Erst dann ...‹
    Ich sehe die Soldaten an, sie haben mich doch gerade noch angefeuert, mir zugerufen, mich gebeten. Eben erst ... Vor ein paar Minuten. Niemand blickt mich an, sie scheinen mich gar nicht zu bemerken, alle sind mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Rauchen, buddeln ... Einer schleift etwas ... Ich kann sehen, wie ich zurechtkomme. Mich hinsetzen und heulen. Heulen! Als wäre ich ein Schinder, als machte es mir überhaupt nichts aus, ein Tier abzuschlachten. Dabei hab ich von klein auf alles Lebendige geliebt. Einmal, da ging ich schon zur Schule, war uns eine Kuh krank geworden und wurde geschlachtet. Ich hab zwei Tage lang geweint. Und nun – bumm! – hatte ich

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