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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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würde.
    Ich folge den Spuren der Seele, zeichne ihr Leben auf. Der Weg der Seele ist mir wichtiger als das Ereignis; es ist unwichtig oder nicht in erster Linie wichtig, »wie es war«, nein, mich interessiert etwas anderes: Was geschah dort mit dem Menschen? Was hat er dort erlebt und verstanden? Über das Leben und den Tod generell? Was hat er für sich aus dieser tiefen Finsternis mitgenommen? Ich schreibe eine Geschichte der Gefühle. Keine Kriegs- oder Staatsgeschichte, sondern die Geschichte des kleinen (obwohl ich dieses Wort nicht mag) Menschen, den die Zeit aus dem einfachen Leben mitten in die epische Tiefe eines grandiosen Ereignisses geschleudert hat. In die große Geschichte. Aber davon werden nicht berühmte und renommierte Heldinnen erzählen, ihre Namen habe ich absichtlich übergangen, sondern Menschen, die von sich sagen: »Wir waren ganz normale Mädchen, wie es damals viele gab« ( A. Suworowa , Partisanenverbindungsfrau). Meine Heldinnen finden wir auf der Straße, in der Menge, nicht auf Bildern in Museen.
    Ich sammle Geschichte aus Bruchstücken lebendigen Lebens, aber ich sammle weibliche Geschichte. Ich will den »weiblichen« Krieg kennenlernen, nicht den »männlichen«. Wie erinnern sich Frauen? Was erzählen sie? Ihnen hat noch niemand zugehört ...
    Die Mädchen von einundvierzig ... Das Erste, was ich sie fragen möchte: Warum waren sie so? Was hat sie motiviert und geleitet?
    Diese Frage stellte sich im neunzehnten Jahrhundert bereits Puschkin, als er in der Zeitschrift Sowremennik einen Auszug aus den Aufzeichnungen des Kavalleriefräuleins Nadeshda Durowa veröffentlichte, die an den napoleonischen Schlachten teilgenommen hatte: »Welche Gründe veranlassten ein junges Mädchen aus einer angesehenen adligen Familie, ihr Vaterhaus zu verlassen, ihr Geschlecht zu verleugnen und Mühen und Pflichten auf sich zu nehmen, die auch Männer häufig scheuen, und sich auf Schlachtfelder zu begeben – und was für Schlachten! Gegen Napoleon. Was hat sie dazu bewogen? Heimliche Herzensenttäuschung? Entzündete Fantasie? Eine unüberwindliche angeborene Neigung? Liebe?«
    Was also?
    Da drängen sie an die Front. Gleich in den ersten Kriegstagen waren die Wehrkomitees und Einberufungsstützpunkte voller Mädchen, die sich freiwillig meldeten und unbedingt mitten in die Hölle wollten, an die vorderste Kampflinie. Sie baten, forderten. Weinten. Liefen eigenmächtig den abziehenden Truppen hinterher. Anfangs wurden sie abgewiesen. Noch glaubte niemand, dass die Rote Armee eine Katastrophe erlitten hatte, dass sie fast zerschlagen war, dass die Hälfte bereits in Gefangenschaft war und der Krieg lang sein würde und erbarmungslos. Dass er unglaubliche Opfer fordern sollte. Doch schon bald wurden sie genommen, bekamen Einberufungsbefehle. Die Waage der Geschichte geriet ins Wanken: Sein oder Nichtsein? Gefallen waren Smolensk, Kiew, Odessa ... Die deutschen Generäle trafen Vorbereitungen für die Parade auf dem Roten Platz, die Eintrittskarten wurden schon gedruckt. »An einer Bahnstation stiegen wir aus, um Wasser zu holen. Da schrie eins von den Mädchen: ›Oh, Mädels, ganze Züge voller Frauen gehen an die Front. Es sind also nicht mehr genug Männer da. Sie sind gefallen. Liegen in der Erde oder sind in Gefangenschaft ...‹« ( N. Rawinskaja , Soldatin der Bade- und Wäschereitruppen). Sie waren viele, wenngleich auch in der schlimmsten Zeit des Krieges keine allgemeine Mobilmachung für Frauen ausgerufen wurde. Einberufen wurden nur Frauen mit militärisch relevanten Berufen – Nachrichtentechnikerinnen, Ärztinnen, Krankenschwestern, Eisenbahnerinnen. Dass die Mädchen an die Front gingen, war ihre eigene Wahl. Ihr persönliches Opfer. Ja, ich sage absichtlich Mädchen, denn sie waren im Schnitt siebzehn, achtzehn Jahre alt, hatten gerade die Schule abgeschlossen oder ein paar Semester studiert. Was also hat sie motiviert? Welche Gefühle? Darauf bekam ich immer dieselbe Antwort: »Wir waren bereit, für die Heimat zu sterben! So waren wir erzogen.« In dieser Antwort schwingt ihre Zeit mit. Ihr Glaube. Ihr Glaube, der sie den Tod für das Leben wählen ließ.
    Sie bekamen einen Jungenhaarschnitt verpasst, und das erwähnen sie alle – den langen Zopf, der auf dem Fußboden im Wehrkomitee zurückblieb. Sie wurden in Männerkleidung gesteckt: Mantel, Stiefel, Fußlappen – es gab kaum passende Größen für sie, meist waren die Sachen mehrere Nummern zu groß. Statt Größe

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