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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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beschließe ich zu schießen. Und wie ich das beschließe, denke ich auf einmal: Das ist doch ein Mensch, zwar ein Feind, aber doch ein Mensch – und meine Hände fangen an zu zittern, mein ganzer Körper zittert wie im Fieber. Eine Art Angst ... Nach den Schießscheiben aus Sperrholz auf einen lebendigen Menschen zu schießen war schwer. Ich sah ihn durch mein Zielfernrohr, ich konnte ihn sehr gut erkennen. Als wäre er ganz nah. In mir sträubte sich etwas ... Hinderte mich ... Aber ich nahm mich zusammen, zog den Abzug ... Er wedelte mit den Armen und fiel hin. Ob er tot war oder nicht, das weiß ich nicht. Aber danach habe ich noch mehr gezittert, war irgendwie voller Angst: Ich habe einen Menschen getötet?!
    Als wir zurückkamen, erzählten wir in unserem Zug, wie es mir ergangen war, hielten eine Versammlung ab. Unsere Komsomolsekretärin Klawa Iwanowna, die redete auf mich ein: ›Mit denen darf man kein Mitleid haben, man muss sie hassen ...‹ Die Faschisten hatten ihren Vater getötet. Manchmal, wenn wir sangen, bat sie: ›Mädchen, hört auf, wenn wir diese Schweine besiegt haben, dann können wir wieder singen.‹
    Nicht auf Anhieb ... Nicht auf Anhieb schafften wir das ... Wir mussten uns gut zureden. Uns selbst überzeugen ...«
    Einige Tage später ruft Maria Iwanowna an und lädt mich zu ihrer Frontkameradin Klawdija Krochina ein. Wieder höre ich, den Faschismus hassen sei das eine, eine ganz andere Sache sei es jedoch, einen konkreten Menschen zu töten. Soldat zu werden. Sie hatten es gelernt, sich darauf vorbereitet, wollten es. Doch gleich in den ersten Tagen erfuhren sie, wie brutal die Welt war, in der sie sich nun befanden.
    Klawdija Grigorjewna Krochina , Oberfeldwebel, Scharfschützin:
    »Beim ersten Mal hat man Angst. Große Angst ...
    Wir legten uns hin, ich beobachtete. Da bemerke ich: Ein Deutscher hat sich aus dem Schützengraben erhoben. Ich drücke ab, und er fällt um. Und dann, wissen Sie, dann begann ich am ganzen Köper zu zittern, ich hörte richtig meine Knochen klappern. Ich fing an zu weinen. Auf Zielscheiben schießen hatte mir nichts ausgemacht, aber nun: Ich hatte getötet! Ich!
    Dann ging das vorbei. Und zwar so: Wir waren schon auf dem Vormarsch, das war in der Nähe eines kleinen Dorfes. Da stand am Wegesrand eine Baracke oder ein Haus, das war nicht mehr zu erkennen, alles brannte, war schon fast verbrannt, völlig verkohlt. Alles verkohlt ... Viele Mädchen gingen nicht näher ran, aber mich zog es förmlich dorthin. In der Glut sahen wir menschliche Knochen, dazwischen rußschwarze Sterne – es waren unsere Verwundeten oder Gefangenen, die da verbrannt waren. Von da an, sooft ich auch tötete, taten sie mir nicht mehr leid. Seit ich diese verkohlten Knochen gesehen hatte ...
    Aus dem Krieg kam ich mit grauen Haaren zurück. Ich war einundzwanzig, aber schon ganz weiß. Ich hatte eine schwere Verwundung gehabt, eine Kopfverletzung, ich hörte auf einem Ohr schlecht. Meine Mama empfing mich mit den Worten: ›Ich habe daran geglaubt, dass du wiederkommst. Ich habe Tag und Nacht für dich gebetet.‹ Mein Bruder ist an der Front gefallen. Sie weinte: ›Heutzutage ist es ganz gleich, ob man Töchter hat oder Söhne. Aber er ist immerhin ein Mann, er muss seine Heimat verteidigen, aber du bist doch ein Mädchen. Um eines habe ich gebetet: Ehe du verstümmelt wirst, dann lieber getötet. Ich bin die ganze Zeit immer zur Bahnstation gegangen. Einmal sah ich da ein Soldatenmädchen mit verbranntem Gesicht ... Ich dachte, das bist du! Dann habe ich auch für sie gebetet.‹
    Ganz in der Nähe unseres Ortes, ich stamme aus dem Gebiet Tscheljabinsk, wurde Erz abgebaut. Sobald die Detonationen losgingen, das war meist nachts, sprang ich sofort aus dem Bett, schnappte mir meinen Soldatenmantel und rannte los – ich musste weglaufen. Mama hielt mich fest, drückte mich an sich und redete mir zu, wie früher, als ich klein war: ›Wach auf, wach auf. Ich bin deine Mama.‹«
    Im Zimmer ist es warm, aber Maria Iwanowna hüllt sich in eine schwere Wolldecke – sie fröstelt. Sie erzählt weiter:
    »Wir wurden gute Soldaten. Wissen Sie, wir hatten nicht viel Zeit zum Nachdenken. Zum Zögern, zum Traurigsein ...
    Unsere Aufklärer nahmen einen deutschen Offizier gefangen, und der konnte sich nicht erklären, warum in seinem Truppenteil so viele Soldaten getötet worden waren, und alle mit Kopfschüssen. Der Einschuss war fast immer an derselben Stelle. Ein einfacher Schütze,

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