Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
Vom Netzwerk:
gut wie gebügelt. Allerdings nicht ganz trocken. Bei Frost kriegten sie eine Kruste. Wie sollte ich lernen, im Rock zu gehen? Die Beine waren wie verheddert. Und dann gehst du im Zivilkleid raus, siehst einen Offizier, da zuckt automatisch der Arm, zum Grüßen. Außerdem waren wir daran gewöhnt, dass wir alles auf Zuteilung bekamen, alles vom Staat, nun gehst du also rein in einen Brotladen, nimmst dir, so viel du brauchst, und vergisst das Bezahlen. Die Verkäuferin, die kennt dich schon, sie weiß, was los ist, und geniert sich, dir zu sagen, dass du nicht bezahlt hast. Hinterher ist es dir peinlich, am nächsten Tag entschuldigst du dich, nimmst noch irgendetwas und bezahlst alles zusammen. Wir mussten alles Normale neu lernen, von vorn ... Das friedliche Leben ...
    Und an noch eins denke ich ... Hören Sie zu. Solange der Krieg gedauert hat, sehr lange ... Ich erinnere mich an keine Vögel und an keine Blumen. Es gab natürlich welche, aber ich erinnere mich nicht daran. So was ... Merkwürdig, nicht? Können Kriegsfilme etwa farbig sein? Dort ist alles schwarz ... Nur das Blut nicht ... Nur das Blut ist rot ...
    Erst vor kurzem, vor acht Jahren, haben wir unsere Maschenka Alchimowa wiedergefunden. Der Kommandeur der Artilleriedivision war verwundet worden, und sie kroch hin, ihn zu retten. Vor ihr explodierte eine Granate ... Ganz nahe ... Der Kommandeur kam um, sie erreichte ihn nicht mehr, ihre beiden Beine waren so zerschmettert, dass man sie nicht richtig verbinden konnte. Wir trugen sie ins Sanitätsbataillon, und als sie zu Bewusstsein kam, bat sie uns: ›Mädels, erschießt mich. Wer braucht mich denn noch?‹ Sie hat so gebettelt, gefleht ... Sie wurde ins Lazarett geschickt, und wir marschierten weiter, in die Offensive. Ihre Spur verlor sich. Wir wussten nicht, wo sie war, wie es ihr ging. Wohin wir auch schrieben, nie kam eine positive Antwort. Geholfen haben uns junge Geschichtsforscher der dreiundsiebzigsten Schule in Moskau. Sie fanden sie in einem Heim für Invaliden irgendwo im Altai. Sehr weit weg. Die ganzen Jahre ist sie von Krankenhaus zu Krankenhaus gewandert, Dutzende Male operiert worden. Sie hatte ihrer Mutter nicht einmal geschrieben, dass sie noch am Leben war. Sie hat sich vor allen versteckt ... Wir brachten sie zu unserem Treffen. Dann zu ihrer Mutter ... Nach dreißig Jahren sahen sie sich wieder. Die Mutter konnte es kaum fassen: ›Was für ein Glück, dass mein Herz nicht schon vor Kummer gebrochen ist. Was für ein Glück!‹ Und Maschenka sagte immer wieder: ›Jetzt habe ich keine Angst mehr vor der Begegnung. Jetzt bin ich alt.‹ Ja, das ist Krieg.
    Ich erinnere mich: Ich liege nachts im Unterstand. Ich schlafe nicht. Irgendwo dröhnt Artillerie ... Es wird geschossen ... Ich habe geschworen, habe den Soldateneid geschworen, wenn nötig, mein Leben zu geben, aber ich möchte nicht sterben ... Selbst wenn man von dort lebendig zurückkommt, wird die Seele krank. Sie tut weh. Heute denke ich: Besser am Bein oder am Arm verwundet sein, mag der Körper schmerzen. Aber die Seele ... Das tut sehr weh. Wir sind ja blutjung an die Front gegangen. Als ganz junge Mädchen. Ich bin im Krieg sogar noch gewachsen. Meine Mutter hat mich zu Hause gemessen ... Ich bin zehn Zentimeter gewachsen ...«
    Beim Abschied hebt sie unbeholfen die Arme. Umarmt mich.

»Wachst noch ein bisschen, Mädels.
Ihr seid noch grün.«
    Stimmen. Dutzende Stimmen. Sie stürzten unaufhörlich auf mich ein, eröffneten mir eine ungewohnte Wahrheit, und diese Wahrheit passte nicht mehr in die kurze, von Kindheit an vertraute Formel: Wir haben gesiegt. Die in Bronze und Marmor gemeißelt wurde. Es war wie eine rasche chemische Reaktion: Das Pathos löste sich auf im lebendigen Gewebe menschlicher Schicksale, erwies sich als äußerst kurzlebiger Stoff. Der sich verflüchtigt, ohne Spuren zu hinterlassen.
    Was suche ich heute, Jahrzehnte später, was will ich hören? Wie es damals war bei Moskau oder bei Stalingrad, eine Beschreibung militärischer Operationen, vergessene Namen gestürmter Anhöhen? Berichte über die Bewegungen von Frontabschnitten und Fronten, von Angriff oder Rückzug, über die Anzahl in die Luft gejagter Züge oder Partisanenoperationen? Nein, ich suche etwas anderes. Mein Buch wird wenig im eigentlichen Sinne militärisches oder spezielles Material enthalten (das ist nicht meine Aufgabe), dafür eine Menge anderen Stoff – menschlichen. Ich suche etwas, das ich spirituelles Wissen nennen

Weitere Kostenlose Bücher