Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
Gerüchte um, dass Hitler die Sowjetunion überfallen wolle, aber solche Reden waren gefährlich. Die wurden streng unterbunden. Solche Leute galten als Panikmacher, für sie interessierten sich die zuständigen Organe. Ihnen ist doch klar, welche? Das NKWD ... Die Tschekisten ... Wenn die Menschen darüber flüsterten, dann nur zu Hause, in der Küche, und in Gemeinschaftswohnungen nur im eigenen Zimmer, hinter verschlossenen Türen. Aber als dann Stalin sprach ... Uns ansprach mit den Worten: ›Brüder und Schwestern ...‹ Da waren alle Kränkungen vergessen. Ein Onkel von mir saß auf Kolyma im Lager, Mutters Bruder, er war Eisenbahner, alter Kommunist. Er wurde auf der Arbeit verhaftet. Klar, von wem? Vom NKWD ... Unser Lieblingsonkel ... Er hatte Auszeichnungen noch aus dem Bürgerkrieg ... Aber meine Mutter sagte: ›Erst mal verteidigen wir die Heimat, alles andere klären wir später.‹ Die Heimat liebten alle.
Ich lief sofort ins Wehrkomitee. Obwohl ich Angina hatte und sogar noch ein bisschen Fieber. Aber ich konnte nicht warten ...«
Jelena Antonowna Kudina, Soldatin, Kraftfahrerin
»Meine Mutter hatte keine Söhne, nur fünf Töchter. Dann die Meldung: Es ist Krieg! Ich hatte ein ausgezeichnetes musikalisches Gehör. Ich träumte von einem Studium am Konservatorium. Ich entschied, mein Gehör an der Front zu nutzen, als Funkerin.
Wir wurden evakuiert, nach Stalingrad. Als Stalingrad belagert war, gingen wir freiwillig an die Front. Alle zusammen. Die ganze Familie: Mama und wir fünf Töchter; Vater war damals schon Soldat ...«
Antonina Maximowna Knjasewa, Unteroffizier, Funkerin
»Wir hatten alle nur einen Wunsch: An die Front. Wir gingen ins Wehrkomitee, da bekamen wir zu hören: ›Wachst noch ein bisschen, Mädels. Ihr seid noch grün.‹ Wir waren sechzehn, siebzehn Jahre alt. Aber ich erreichte, was ich wollte, ich wurde genommen. Meine Freundin und ich wollten in die Scharfschützenschule, aber es hieß: ›Ihr werdet Regulierer. Es ist keine Zeit, euch auszubilden.‹ Mama hat ein paar Tage lang auf der Bahnstation Wache gehalten, um uns abzupassen. Sie sah uns, als wir schon zum Zug liefen, gab mir eine Pirogge und ein Dutzend Eier und fiel in Ohnmacht ...«
Tatjana Jefimowna Semjonowa, Unterfeldwebel,
Reguliererin
»Am ersten Kriegstag stand Mama abends am Fenster und betete. Ich wusste nicht, dass meine Mama an Gott glaubte. Sie sah lange zum Himmel hoch ...
Zu Hause waren wir nur Mädchen, lauter Mädchen. An der Front war nur ich. Und mein Vater war glücklich, dass seine Tochter an der Front ist. Die Heimat verteidigt. Vater ging früh am Morgen ins Wehrkomitee. Er ging mein Zeugnis holen, und zwar extra früh am Morgen, damit alle im Dorf sahen, dass seine Tochter an der Front ist ...«
Jefrossinja Grigorjewna Brëus, Hauptmann, Ärztin
»Sommer ... Der letzte Tag im Frieden. Am Abend waren wir tanzen. Wir waren sechzehn. Wir gingen noch alle zusammen, brachten einander der Reihe nach nach Hause. Es gab unter uns noch keine Pärchen, die sich abgesondert hätten. Wir liefen immer zusammen, sechs Jungen und sechs Mädchen.
Schon zwei Tage später kamen diese Jungs, Kursanten der Panzerschule, die uns vom Tanz nach Hause begleitet hatten, als Krüppel zurück, in Binden gewickelt. Das war schrecklich. Wenn ich jemanden lachen hörte, konnte ich das nicht verzeihen. Wie kann man lachen, wie kann man sich über etwas freuen, wenn ein solcher Krieg herrscht?
Bald ging mein Vater zur Volkswehr. Zu Hause blieben nur meine jüngeren Brüder und ich. Die Brüder waren vierunddreißig und achtunddreißig geboren. Ich sagte meiner Mutter, ich würde an die Front gehen. Sie weinte ... Ich bin von zu Hause abgehauen ... Ich schrieb ihr erst aus meinem Truppenteil. Von dort konnte sie mich nicht mehr zurückholen ...«
Lilija Michailowna Butko, Operationsschwester
»Wir traten der Größe nach an, ich war die Kleinste. Der Kommandeur geht die Reihe ab, sieht uns an. Er kommt zu mir: ›Was ist das für ein Däumelinchen? Was willst du denn hier? Vielleicht gehst du lieber zurück zu deiner Mama und wächst noch ein bisschen.‹
Aber ich hatte keine Mama mehr ...«
Polina Semjonowna Nosdratschowa,
Sanitätsinstrukteurin
»Ich habe Mama gebeten: Bitte bloß nicht weinen ... Es war zwar nicht Nacht, aber es war dunkel, und es gab ein riesiges Geheule. Sie weinten nicht, unsere Mütter, die ihre Töchter begleiteten – sie heulten. Aber meine Mama nicht, sie stand da wie aus Stein.
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