Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
sechsunddreißig bekamen sie Stiefel in Größe vierzig. Stellen wir uns das nur vor! Auch in Hosen und Feldblusen mussten sie noch reinwachsen. Die Armee hatte sie nicht erwartet, noch dazu in so ungeheurer Zahl – Hunderttausende –, und war nicht auf sie vorbereitet. Man unterrichtete sie rasch im Umgang mit MP , Maschinengewehr und Scharfschützengewehr. Lehrte sie Bomben abwerfen und Minen legen. Sie erschlossen sich sämtliche militärischen Berufe, selbst die »männlichsten«. Sie waren nicht nur Sanitätsinstrukteure und Flak-Soldaten, sie waren auch Scharfschützen, Panzersoldaten, Flieger, Minenleger, Matrosen, MG -Schützen. Das wurde unter anderem übrigens auch zu einem sprachlichen Problem: Es gab keine weiblichen Worte für diese Berufe, die noch nie zuvor von Frauen ausgeübt worden waren.
Die weiblichen Worte entstanden erst dort, im Krieg.
Bevor sie töten lernten, mussten sie etwas anderes lernen: aus Liebe Hass zu gewinnen und aus Hass Liebe. »Nein, das ist nichts für Frauen – hassen und töten. Das ist nichts für uns ... Das Allerschwerste ...« ( A.Wolossjuk, Soldatin, Infanteristin). Überraschend in den Krieg geraten, sahen sie ihn auch von einer überraschenden, uns unbekannten Seite. Mit anderen Augen. Der weibliche Krieg hat andere Worte, eine andere Farbe, einen anderen Geruch. »Ich erinnere mich an einen großen Garten ... Der Garten blühte ... Und wir liefen nach dem Gefecht herum und sammelten die Toten unter den Bäumen ein. Was für ein Glück, wenn einer nicht tot war, sondern verwundet. Er hatte Schmerzen, aber er lächelte, weil er lebte ... Und weil der Garten blühte ...« ( A.W. Gorjuchina, Sanitätsinstrukteurin). Der erste Schuss, der erste Tod: »Da liegt ein Mädchen ... Eine von uns Nachrichtensoldaten. Sie stirbt, und ich sehe das zum ersten Mal. Wir sind die ›Neuen‹. Kraniche ziehen vorüber. Genau in diesem Moment fliegt ein Keil Kraniche über uns hinweg. Sie schreien. Alle sehen zum Himmel, auch sie öffnet die Augen. Schaut hinauf: ›Wie schade ...‹ Dann schweigt sie, lächelt uns an: ›Werde ich wirklich sterben?‹ Und aus ...« ( M. N. Wassilewskaja, Nachrichtensoldatin).
Man möchte meinen, das alles könnten nur außergewöhnliche oder anormale Menschen ertragen, sie aber waren noch gestern Schülerinnen, Studentinnen, behütete Mädchen. Wie konnten sie das? Wie?
Ich habe viele Fragen. Ich beeile mich, sie zu stellen, und wage nicht zu stören, wenn sie sich selbst zuhören.
Von Schwüren und Gebeten
»Ich möchte reden! Reden! Mich aussprechen. Endlich will man auch uns anhören. Etwas erfahren. Wir haben so viele Jahre geschwiegen, sogar zu Hause haben wir geschwiegen. Jahrzehntelang. Das erste Jahr, als ich aus dem Krieg zurückkam, habe ich geredet und geredet. Niemand hat mir zugehört. Niemand wollte das hören. Niemand hat es verstanden. Da bin ich verstummt ...
Es ist gut, dass du so jung bist. Könntest meine Tochter sein. Ich bin schon alt. Ich schaue alles an und nehme Abschied, ich weiß, dass ich es vielleicht zum letzten Mal bewundere. Ich habe ein krankes Herz. Hatte schon einen Infarkt. Aber du bist noch jung ... Hör mich an. Wenn du es nicht verstehst, dann weine wenigstens mit mir ...
Ich war blutjung. Absolut ... Ein kindliches Gemüt ... Ich kann mich nicht einmal mehr richtig erinnern ...
Wir waren acht Kinder, die ersten vier alles Mädchen, ich war die Älteste. Es war Krieg, der Deutsche stand schon vor Moskau. Eines Tages kam Papa von der Arbeit und weinte: ›Früher hab ich mich gefreut, dass meine Ersten Mädchen sind. Bräute. Aber jetzt geht aus jeder Familie jemand an die Front, nur von uns nicht. Ich bin zu alt, mich nehmen sie nicht, ihr seid Mädchen, und die Jungen sind noch zu klein.‹ Irgendwie machte das unserer Familie sehr zu schaffen.
Dann wurden Krankenschwesterlehrgänge eingerichtet, und Vater brachte meine Schwester und mich dorthin. Ich war fünfzehn, meine Schwester vierzehn. Er sagte: ›Das ist alles, was ich für den Sieg geben kann. Meine Mädchen.‹ Das war damals der einzige Gedanke.
Ein Jahr später kam ich an die Front ...«
Natalja Iwanowna Sergejewa, Soldatin, Sanitäterin
»In den ersten Tagen ... In der Stadt ging alles drunter und drüber. Ein einziges Chaos. Angst ... Dauernd wurde Jagd gemacht auf irgendwelche Spione ... Aber niemand ließ im Grunde den Gedanken zu, dass unsere Armee sich zurückzog. Wie das? Wo war Stalin? Stalin schwieg ...
Vor dem Krieg gingen
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