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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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eine andere Freundin von mir, die ging mit ihrem kleinen Mädchen durch die Stadt, das trug unterm Kleid Flugblätter, der ganze Körper war damit umwickelt, und sie hob die Ärmchen und klagte: ›Mama, mir ist heiß ... Mama, mir ist heiß ...‹ Und auf der Straße liefen überall Deutsche rum und Polizisten.
    Und sogar die Kinder ... Wir nahmen sie mit in die Abteilung, aber es waren doch Kinder. Die Deutschen umzingelten uns. Belagerung. Alle sahen, dass Gefahr drohte, und wir beschlossen, die Kinder ins Hinterland zu schicken, aber sie liefen aus dem Kinderheim weg an die Front. Unterwegs wurden sie wieder eingefangen, aber sie liefen immer wieder weg, immer wieder, an die Front ...
    Die Geschichtsschreiber werden sich noch hundert Jahre fragen: Was war das? Stellen Sie sich vor, eine Schwangere mit einer Mine ... Sie wollte das Kind doch ... Sie liebte es, wollte leben. Und natürlich hatte sie Angst. Aber sie ging trotzdem ...«
    Vera Sergejewna Romanowskaja ,
    Partisanin, Krankenschwester
    »Der Sommer begann ... Ich machte meinen Abschluss an der medizinischen Fachschule. Bekam mein Diplom. Krieg! Wir wurden ins Wehrkomitee bestellt, der Befehl lautete: ›Ihr habt zwei Stunden Zeit. Zum Packen. Wir schicken euch an die Front.‹ Ich packte alles in einen kleinen Koffer.«
    »Was haben Sie denn mitgenommen?«
    »Konfekt.«
    »Wie?«
    »Einen ganzen Koffer voll Konfekt. Dort in dem Dorf, wohin ich nach der Fachschule geschickt wurde, hatte ich Reisegeld bekommen. Und für das ganze Geld habe ich einen Koffer voll Schokoladenkonfekt gekauft. Obendrauf legte ich das Foto unseres Jahrgangs, mit allen meinen Mädchen. Ich kam ins Wehrkomitee. Der Chef fragte: ›Wohin sollen wir Sie schicken?‹ Ich darauf: ›Wohin geht denn meine Freundin?‹ Wir waren zusammen ins Leningrader Gebiet gekommen, sie arbeitete im Nachbardorf, fünfzehn Kilometer entfernt. Er lachte. ›Dasselbe hat sie auch gefragt.‹ Er nahm meinen Koffer, trug ihn zu dem Anderthalbtonner, der uns zur Bahnstation bringen sollte. ›Was haben Sie denn da Schweres drin?‹ – ›Konfekt. Den ganzen Koffer voll.‹ Er verstummte. Hörte auf zu lächeln. Ich sah, ihm war nicht wohl zumute, er schämte sich sogar irgendwie. Er war ein älterer Mann ... Er wusste, wohin er mich schickte ...«
    Maria Wassilijewna Tichomirowa ,Feldscherin
    »Im Wehrkomitee war ein Aushang: Kraftfahrer gesucht. Ich besuchte einen Kraftfahrerlehrgang. Sechs Monate. Dass ich Lehrerin war, spielte keine Rolle. (Vor dem Krieg war ich an der pädagogischen Fachschule.) Wer braucht im Krieg schon Lehrer? Da braucht man Soldaten. Wir waren viele Mädchen, ein ganzes Kfz-Bataillon.
    Einmal während der Ausbildung ... Ich muss heute noch weinen, wenn ich daran denke ... Es war Frühling. Wir waren fertig mit dem Schießen und gingen zurück. Ich pflückte Veilchen. Einen kleinen Strauß. Ich band ihn ans Bajonett. Und so lief ich weiter.
    Im Lager ließ uns der Kommandeur antreten und rief mich auf. Ich trat vor ... Ich hatte die Veilchen am Gewehr ganz vergessen. Und er schimpfte: ›Ein Soldat hat ein Soldat zu sein, kein Blumenpflücker.‹ Er verstand nicht, wie man in so einer Atmosphäre an Blumen denken konnte. Aber ich warf die Veilchen nicht weg. Ich nahm sie ab und steckte sie in die Tasche. Dafür bekam ich zwei Extradienste außer der Reihe aufgebrummt.
    Ein andermal stand ich Wache. Um zwei Uhr nachts kam die Ablösung, aber ich schickte ihn schlafen: ›Du kannst am Tag übernehmen, jetzt bleibe ich hier.‹ Ich schob gern die ganze Nacht Wache, bis zum Morgengrauen, nur um die Vögel zu hören. Nur nachts erinnerte etwas an das frühere Leben. Das Leben im Frieden.
    Als wir abrückten an die Front und die Straße entlangliefen, standen die Menschen dicht an dicht: Frauen, alte Männer, Kinder. Alle weinten: ›Mädchen gehen an die Front.‹ Wir waren ein ganzes Mädchenbataillon ...
    Ich war Kraftfahrerin. Nach dem Gefecht sammelten wir die Toten ein ... Alles blutjunge Burschen ... Halbe Kinder ... Und auf einmal lag da ein Mädchen. Ein totes Mädchen ... Da verstummten alle ... Den ganzen Weg bis zum Gemeinschaftsgrab haben wir geschwiegen.«
    Tamara Illarionowna Dawidowitsch ,
    Unterfeldwebel, Kraftfahrerin
    »Wie fuhr ich an die Front? Ich dachte ja, es wäre nicht für lange. Wir würden den Feind bald besiegen! Ich nahm einen Rock mit, meinen Lieblingsrock, zwei Paar Socken und ein Paar Schuhe. Wir zogen uns zurück aus Woronesh, aber ich weiß noch, wir

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