Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
die Treppe hoch, und mir knickten die Beine ein: Ist er es oder nicht? Er selbst öffnete die Tür, tastete mich ab, erkannte mich: ›Ninka, du? Ninka?‹ Nach so vielen Jahren hat er mich erkannt ...
Seine uralte Mutter, er lebte mit ihr zusammen, die saß mit uns am Tisch und weinte. Ich fragte erstaunt: ›Warum weinen Sie? Sie sollten sich freuen, dass sich Regimentskameraden wiedergefunden haben.‹
Sie antwortete: ›Drei Söhne von mir sind in den Krieg gezogen. Zwei sind gefallen, nur Wanja ist zurückgekommen.‹
Und Wanja hat keine Augen mehr. Sie führt ihn ein Leben lang an der Hand.
Ich fragte ihn: ›Wanja, das Letzte, was du gesehen hast, das war das Feld von Prochorowka, die Panzerschlacht ... Woran erinnerst du dich, wenn du an diesen Tag denkst?‹
Und wissen Sie, was er mir geantwortet hat?
›Ich bedaure nur eins: dass ich zu früh den Befehl gegeben habe, den brennenden Panzer zu verlassen. Die Jungs sind sowieso gefallen. Aber wir hätten noch einen deutschen Panzer abschießen können ...‹
Das ist das Einzige, was er bis heute bedauert ...
Wir beide waren glücklich im Krieg ... Daran erinnere ich mich ...
Warum habe ich überlebt? Wer hat mich beschützt? Wozu? Damit ich davon erzähle ...«
Meine Begegnung mit Nina Wischnewskaja hatte noch eine Fortsetzung, wenn auch nur schriftlich. Nachdem ich ihre Erzählung vom Band abgeschrieben hatte, schickte ich ihr wie versprochen ein Exemplar. Nach einigen Wochen kam ein dickes Einschreibepäckchen aus Moskau. Ich machte es auf: Zeitungsausschnitte, Artikel, offizielle Berichte über die militärpatriotische Tätigkeit der Kriegsveteranin Nina Wischnewskaja an Moskauer Schulen. Auch mein Material lag dabei, und sie hatte nichts davon übrig gelassen, überall Striche: Die lustigen Zeilen über die Köche, die sich in den Kesseln waschen, selbst das harmlose: »Onkelchen, Onkelchen, der Onkel hat gesagt, ich soll Ihnen das hier geben.« Und am Rand der Stelle, wo von Leutnant Mischa T. die Rede ist, drei empörte Fragezeichen. Damit wurde ich später noch oft konfrontiert, mit diesen zwei Wahrheiten in ein und demselben Menschen. Der eigenen Wahrheit, die ins Unterbewusstsein verdrängt wird, und der fremden oder besser heutigen Wahrheit, die vom Geist der Zeit durchdrungen ist. Seinem Willen und Diktat unterliegt. Die erste konnte unter dem Druck der zweiten selten bestehen. Wenn zum Beispiel außer der Erzählerin noch jemand anwesend war, Verwandte oder Bekannte, Nachbarn, waren die Erinnerungen weniger aufrichtig und intim, als wenn wir beide allein waren. Bei so einem Gespräch vor Publikum war es schwierig, zu persönlichen Eindrücken vorzudringen, ich stieß ständig auf einen starken inneren Widerstand. Eine Art Selbstschutz. Eine permanente Korrektur. Es war geradezu gesetzmäßig: Je mehr Zuhörer, desto nüchterner, farbloser wurde erzählt. Näher an dem, was »richtig« war. Am üblichen Kanon. Kontrolliert. Genau wie bei Nina Jakowlewna: Den einen Krieg erzählte sie mir – »wie einer Tochter, damit du verstehst, was wir blutjungen Mädchen durchmachen mussten« –, der andere war für ein großes Auditorium gedacht – »wie andere erzählen und wie es in der Zeitung steht – von Helden und Heldentaten, um die Jugend mit diesen Vorbildern zu erziehen«. Jedes Mal staunte ich, wie sehr sie dem Einfachen, Menschlichen misstrauten, wie sehr sie bestrebt waren, das Leben durch das Ideal zu ersetzen. Durch ein Phantombild.
Ich aber kann nicht vergessen, wie wir vertraut zusammen in der Küche saßen und Tee tranken. Und beide weinten.
»In unserer Familie leben zwei Kriege ...«
Ein kleines Haus in der Kachowskaja-Straße in Minsk. »Bei uns leben zwei Kriege«, mit diesen Worten werde ich begrüßt, als die Tür aufgeht. Olga Wassiljewna Podwyschenskaja war Maat in einer baltischen Flotteneinheit, ihr Mann Saul Genrichowitsch Unterfeldwebelbei der Infanterie .
Genau darum bin ich hier. Ich möchte alle beide hören.
Zuerst werden mir sorgfältig und liebevoll gestaltete Fotoalben gezeigt. Jedes trägt einen Titel: »Krieg«, »Hochzeit«, »Kinder«, »Enkel«. Mir gefällt dieser respektvolle Umgang mit dem eigenen Leben. Die dokumentierte Liebe zum Erlebten. Das begegnet mir relativ selten, obwohl ich in Hunderten Wohnungen war, bei den verschiedensten Familien – bei gebildeten und bei einfachen Menschen. Wahrscheinlich haben wir durch die häufigen Kriege und Revolutionen verlernt, die Verbindung zur
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