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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Vergangenheit aufrechtzuerhalten, sie zu lieben und den Faden der Familiengeschichte weiterzuspinnen. Erinnerungen zu sammeln. Ich erkundige mich – die Familienchronik führt Saul Genrichowitsch. Hin und wieder schreibt er sogar ein bisschen. Nur so für sich.
    »Sag bloß, das bin ich?« Olga Wassiljewna lacht und nimmt ein Foto in die Hand, auf dem sie Seemannsuniform trägt und Kriegsauszeichnungen. »Sooft ich mir die Fotos anschaue, ich staune jedes Mal. Saul hat sie unserer sechsjährigen Enkelin gezeigt, und die hat gefragt: ›Oma, du warst früher ein Junge, ja?‹«
    »Olga Wassiljewna, sind Sie gleich an die Front gegangen?«
    »Mein Krieg begann mit der Evakuierung ... Die ganze Fahrt über wurde der Zug beschossen, bombardiert, die Flugzeuge flogen ganz tief. Ich erinnere mich, wie eine Gruppe von Jungen aus der Handwerksschule aus dem Zug sprang, alle in schwarzen Mänteln. Eine prima Zielscheibe! Sie wurden alle erschossen, die Flugzeuge fegten dicht über den Boden hinweg ... Man hatte den Eindruck, dass sie mitzählten, wie viele sie abschossen ... Können Sie sich das vorstellen?
    Wir arbeiteten in der Fabrik, dort wurden wir auch verpflegt, es ging uns nicht schlecht. Aber das Herz brannte ... Im Juni zweiundvierzig erhielt ich die Einberufung. Wir waren dreißig Mädchen, wir wurden in offenen Lastkähnen unter Beschuss über den Ladogasee ins belagerte Leningrad gebracht. Mein erster Tag in Leningrad, woran ich mich erinnere – weiße Nächte und eine Gruppe von Seeleuten, alle schwarz gekleidet. Eine spürbar angespannte Atmosphäre, von der Bevölkerung war nichts zu sehen, nur Scheinwerfer und Matrosen mit Bändern um die Blusen, wie im Bürgerkrieg. Irgendwie wie im Kino. Können Sie sich das vorstellen?
    Die Stadt war ringsum eingeschlossen. Die Front war ganz nah. Mit der Straßenbahnlinie drei konnte man bis zum Kirow-Werk fahren, und dort begann schon die Frontlinie. Sobald das Wetter klar war, feuerte die Artillerie. Direkt gerichtet. Sie feuerten und feuerten ... An den Kais lagen große Schiffe, natürlich getarnt, aber Beschädigungen waren trotzdem nicht auszuschließen. Wir wurden Nebeltarnerinnen. Es wurde eine Sondergruppe Nebeltarnung aufgestellt, unter dem Befehl des einstigen Kommandeurs einer Torpedoboot-Division, Kapitänleutnant Alexander Bogdanow. Wir waren viele Mädchen, die meisten mit technischer Fachschulausbildung oder einigen Hochschulsemestern. Wir mussten die Schiffe mit einem Nebelvorhang schützen. Wenn der Beschuss losging, dann sagten die Seeleute: ›Hoffentlich sind die Mädchen mit dem Nebelvorhang bald da. Da fühlt man sich irgendwie sicherer.‹ Wir fuhren hinaus, in Autos mit einem Spezialgemisch, während sich alle anderen im Bunker verkrochen. Wir aber lenkten das Feuer sozusagen direkt auf uns. Die Deutschen schossen ja auf diesen Nebelvorhang ...
    Wir bekamen Blockadeverpflegung, wissen Sie, aber irgendwie hielten wir aus. Na ja, erstens waren wir jung, das ist wichtig, und zweitens staunten wir über die Leningrader. Wir waren ja noch irgendwie versorgt, wenigstens minimal, aber dort fielen die Menschen vor Hunger auf der Straße um. Zu uns kamen immer ein paar Kinder, und wir fütterten sie von unseren schmalen Rationen mit durch. Das waren keine Kinder, das waren kleine Greise. Mumien. Sie erzählten uns, in der Stadt seien alle Katzen und Hunde aufgegessen worden. Auch Spatzen und Elstern waren verschwunden. Dann kamen die Kinder nicht mehr ... Wir haben noch lange auf sie gewartet ... Wahrscheinlich sind sie gestorben. Nehme ich an ... Im Winter, als es in Leningrad kein Heizmaterial mehr gab, mussten wir Häuser abreißen in einem Stadtteil, wo noch Holzhäuser standen. Der schlimmste Moment war, wenn man zu so einem Haus kam ... Das Haus war noch gut, die Menschen darin tot oder weggegangen, und wir mussten es zerstören. Es dauerte wohl eine halbe Stunde, bis jemand zum Brecheisen greifen konnte. Alle standen da und rührten sich nicht. Erst wenn der Kommandeur das Brecheisen ansetzte, dann fingen wir an mit dem Einreißen.
    Wir wurden bei der Holzbeschaffung eingesetzt, schleppten Munitionskisten. Ich erinnere mich, einmal schleppte ich eine Kiste und brach zusammen, sie war schwerer als ich. Das ist das eine. Und das Zweite: Es gab so viele Schwierigkeiten für uns Frauen! So was zum Beispiel: Später wurde ich Gruppenkommandeur. Die Gruppe bestand aus jungen Burschen. Wir waren den ganzen Tag auf dem Boot. Es war ein kleines Boot ohne

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