Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
Und dann dorthin laufen, kriechen ... An der Front waren wir fünf Freundinnen: Ljuba Jassinskaja, Schura Kisseljowa, Tonja Bobkowa, Sina Latysch und ich. Die Mädchen aus Konakowo, so nannten uns die Panzersoldaten. Sie sind alle gefallen ...
Vor dem Gefecht, bei dem Ljuba Jassinskaja fiel, saßen wir beide abends Arm in Arm zusammen. Und redeten. Das war dreiundvierzig. Unsere Division hatte den Dnepr erreicht. Plötzlich sagte sie zu mir: ›Weißt du, in diesem Gefecht werde ich fallen. Ich habe so eine Vorahnung. Ich war beim Hauptfeldwebel, hab ihn um neue Wäsche gebeten, aber er wollte keine rausrücken, von wegen – du hast doch vor kurzem erst welche bekommen. Lass uns morgen noch mal zusammen hingehen.‹ Ich beschwichtigte sie: ›Wir beide sind schon zwei Jahre an der Front, die Kugeln machen einen Bogen um uns.‹ Aber am Morgen überredete sie mich doch, mitzugehen zum Hauptfeldwebel, und wir erbettelten neue Wäsche. Und nun trug sie dieses neue Unterhemd. Schneeweiß, mit Bändern hier ... Es war ganz voller Blut ... Diese Kombination aus Weiß und Rot, mit rotem Blut – das habe ich noch immer vor mir. Genau so hatte sie sich das wohl vorgestellt ...
Wir trugen sie zu viert auf einer Zeltplane, sie war auf einmal sehr schwer. In diesem Gefecht waren viele von uns gefallen. Wir schaufelten ein großes Gemeinschaftsgrab. Legten alle hinein, Ljuba als Letzte. Ich konnte noch immer nicht begreifen, dass sie nicht mehr lebte, dass ich sie nie wiedersehen würde. Ich dachte: Ich sollte mir etwas von ihr nehmen, zur Erinnerung. Sie trug einen Ring, ob aus Gold oder was, weiß ich nicht. Den nahm ich mir. Obwohl die Jungs mich warnten: ›Tu das nicht, das ist ein schlechtes Omen.‹ Und als wir dann Abschied nahmen, jeder eine Hand voll Erde ins Grab warf, da fiel mir der Ring mit hinein. Zu Ljuba ... Da erinnerte ich mich, dass sie diesen Ring sehr geliebt hatte ... Ihr Vater, der hat den ganzen Krieg mitgemacht und ist gesund zurückgekehrt. Ihr Bruder auch. Die Männer sind zurückgekehrt. Aber Ljuba ist gefallen ...
Schura Kisseljowa ... Sie war die Schönste von uns. Wie eine Schauspielerin. Sie ist verbrannt. Sie hatte Verwundete in Strohmieten versteckt, dann wurden sie beschossen, das Stroh geriet in Brand. Schura hätte sich retten können, aber dann hätte sie die Verwundeten im Stich lassen müssen – sie konnten nicht laufen ... Die Verwundeten verbrannten ... Und Schura mit ihnen ...
Erst vor kurzem erfuhr ich, wie Tonja Bobkowa umkam. Sie hatte den Mann, den sie liebte, vor Splittern geschützt. Fliegende Splitter, das sind Bruchteile von Sekunden ... Wie hat sie das nur geschafft? Sie rettete Leutnant Petja Boitschewski, sie hat ihn geliebt. Und er blieb am Leben.
Nach dreißig Jahren kam Petja Boitschewski aus Krasnodar her, machte mich beim Frontkameradentreffen ausfindig und erzählte mir alles. Wir fuhren zusammen nach Borissow und gingen zu der Wiese, wo Tonja gefallen ist. Er nahm Erde von ihrem Grab ... Hielt sie in der Hand und küsste sie ...
Wir waren fünf, wir Mädchen aus Konakowo. Aber nur ich allein bin zur Mutter zurückgekehrt ...«
Überraschend trägt sie mir Gedichte vor. Bekennt, die habe sie selbst an der Front geschrieben. Viele von ihnen schrieben dort Gedichte. Noch heute werden sie sorgfältig abgeschrieben, in Familienarchiven verwahrt – ungelenke Verse, rührend, aber voller aufrichtiger Gefühle, die ich nach meinen vielen Begegnungen und Gesprächen wie Dokumente betrachte. Aus diesen Gefühlsdokumenten höre ich die Zeit heraus, sehe ich die Generation vor mir. Ich würde sie nicht als Generation des Krieges bezeichnen, sondern als Generation des Glaubens. Wenn sie über ihren Glauben sprechen, haben sie beseelte Gesichter. Um mich herum sehe ich solche Gesichter nicht mehr. Wir haben andere Zeiten – und auch die Gesichter sind andere.
»Ich lebe die ganzen Jahre nicht hier ... Ich lebe im Krieg ... Vor zehn Jahren habe ich meinen Freund Wanja Posdnjakow ausfindig gemacht. Wir dachten, er wäre gefallen, aber er war am Leben. Sein Panzer, er war Panzerkommandant, hatte bei Prochorowka zwei deutsche Panzer vernichtet und wurde in Brand geschossen. Die Besatzung kam um, nur Wanja blieb am Leben – ohne Augen, mit Verbrennungen am ganzen Körper. Er wurde ins Lazarett gebracht, aber niemand glaubte, dass er überleben würde. Nach dreißig Jahren machte ich seine Adresse ausfindig ... Ein ganzes Leben war vergangen ... Ich erinnere mich, ich lief
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