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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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eigentlich?‹
    Ich begriff: Wenn ich die Wahrheit sage, schicken sie mich ins Kinderheim. Aber ich wollte diese starken Menschen nicht mehr verlieren. Ich wollte kämpfen, genau wie sie. Uns war doch immer eingeredet worden, auch mein Vater hatte das gesagt, dass wir auf fremdem Territorium kämpfen würden, das sei alles nur vorübergehend, der Krieg würde bald mit unserem Sieg enden. Und das ohne mich? So waren meine kindlichen Gedanken. Ich sagte, ich sei sechzehn, und durfte bleiben. Bald wurde ich auf einen Lehrgang geschickt. Vier Monate lang lernte ich dort. Nebenbei pflegte ich die ganze Zeit Verwundete. Ich lernte nicht in der Schule, sondern gleich an Ort und Stelle, im Sanitätsbataillon. Wir waren auf dem Rückzug, die Verwundeten nahmen wir mit.
    Straßen benutzten wir nicht, die wurden bombardiert und beschossen. Wir liefen durch Sumpfgebiete, quer durchs Gelände. Getrennt. Jede Truppe für sich. Manchmal auch zusammen, manchmal gab es Gefechte. So liefen wir und liefen. Über Felder. Von wegen Ernte! Wir zertrampelten den Roggen. Das Getreide stand in dem Jahr traumhaft hoch. Grünes Gras, Sonne – und überall Tote, überall Blut ... Getötete Menschen und Tiere. Umgestürzte Bäume ... Wir kamen bis Rostow. Dort wurde ich bei einem Bombenangriff verwundet. Im Zug kam ich zu mir und hörte, wie ein älterer ukrainischer Soldat einen jungen Soldaten anschnauzte: ›Deine Frau hat nicht so geheult, als sie ihr Kind gekriegt hat, wie du jetzt heulst.‹ Doch zu mir, als er sah, dass ich wach war, da sagte er: ›Du schrei ruhig, meine Liebe, schrei. Dann wird dir leichter. Du darfst.‹ Ich musste an Mama denken und fing an zu weinen.
    Nach dem Lazarett stand mir Urlaub zu, und ich versuchte, meine Mutter zu finden. Und Mama suchte nach mir, und meine Schwester Olga suchte uns beide. Wir fanden uns über Bekannte in Moskau. Wir schrieben alle an deren Adresse, so fanden wir uns wieder. Mama lebte in einem Kolchos bei Stalingrad. Ich fuhr hin. Das war Ende einundvierzig. Mein Bruder fuhr Traktor, er war noch ein Kind, erst dreizehn. Erst saß er nur auf dem Anhänger, aber als alle Traktoristen an die Front mussten, da wurde er Traktorist. Er arbeitete Tag und Nacht. Mama lief hinterm Traktor her oder saß neben ihm, aus Angst, er könnte einschlafen und runterfallen. Sie schliefen zusammen bei fremden Leuten auf dem Fußboden. Angezogen, weil sie nichts zum Zudecken hatten. Ja, so war das. Bald kam auch Olga, sie wurde als Buchhalterin beschäftigt. Sie schrieb ans Wehrkomitee, wollte an die Front, bekam aber immer Absagen. Da beschlossen wir – ich war ja schon kampferfahren –, wir wollten zusammen nach Stalingrad fahren und uns dort eine Truppe suchen. Um Mama zu beruhigen, behaupteten wir, wir wollten ins Kubangebiet fahren, eine reiche Gegend, Vater hatte dort Bekannte ...
    Ich besaß einen alten Uniformmantel, eine Feldbluse und zwei Paar Hosen. Eine Hose gab ich Olga, sie hatte ja gar nichts. Stiefel besaßen wir auch nur ein Paar für beide. Mama hatte uns aus Schafwolle eine Art Socken oder Schlappen gestrickt, was Warmes. Wir liefen sechzig Kilometer zu Fuß, bis Stalingrad: Mal die eine in Stiefeln, die andere in Schlappen, dann wurde getauscht. Es war kalt, Februar, wir holten uns Erfrierungen und hungerten. Was hatte Mama uns schon auf den Weg mitgegeben? Eine Art aus Knochen gekochte Sülze und ein paar Fladen. Und wir hatten solchen Hunger ... Beim Einschlafen träumten wir immer vom Essen. Ich sah Brotlaibe durch die Luft fliegen ...
    Wir erreichten Stalingrad, doch dort stand niemandem der Sinn nach uns. Keiner wollte uns anhören. Wir beschlossen, dorthin zu fahren, wohin Mama uns geschickt hatte, an den Kuban, zu Papas Bekannten. Wir stiegen in einen Güterzug: Ich saß im Uniformmantel auf der Bank, Olga darunter. Dann tauschten wir, ich kroch unter die Bank, Olga saß oben. Militärangehörige wurden nicht kontrolliert. Und wir hatten schließlich kein Geld ...
    Wir erreichten den Kuban. Fanden die Bekannten. Und erfuhren dort, dass gerade ein Kosaken-Freiwilligenkorps aufgestellt wurde. Das vierte Kosaken-Kavalleriekorps, später zum Gardekorps ernannt. Es bestand nur aus Freiwilligen. Leute jeden Alters meldeten sich dafür: Kosaken, die schon unter Budjonny und Woroschilow in den Kampf gezogen waren, und ganz junge Leute. Wir wurden genommen. Kamen zusammen in dieselbe Schwadron. Jede erhielt eine Uniform und ein Pferd. Das Pferd musste man selbst versorgen, füttern und

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