Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
habe. Das kann ich im ganzen Leben nicht verarbeiten ... Manchmal möchte ich weinen. Aber ich kann nicht ...
Im Krieg habe ich alles vergessen. Mein früheres Leben. Auch die Liebe. Alles ...
Der Kommandeur einer Aufklärerkompanie verliebte sich in mich. Seine Soldaten brachten mir Briefchen von ihm. Einmal ging ich zu einem Rendezvous mit ihm. ›Nein‹, sagte ich zu ihm. ›Ich liebe einen Mann, der schon lange tot ist.‹ Er trat ganz dicht vor mich, sah mir in die Augen, drehte sich um und ging weg. Es wurde geschossen, aber er duckte sich nicht einmal ... Später, das war schon in der Ukraine, befreiten wir ein großes Dorf. Ich dachte: Ich geh mich mal umsehen. Es war schönes Wetter, die Hütten ganz weiß. Doch hinter dem Dorf waren lauter Gräber, noch ganz frisch. Dort waren die begraben, die im Kampf um das Dorf gefallen waren. Ich weiß selbst nicht, was mich dorthin zog. Auf den Gräbern waren Tafeln mit Fotos und Namen. Auf jedem Grab ... Auf einmal entdeckte ich ein bekanntes Gesicht. Der Kommandeur der Aufklärungskompanie, der mir seine Liebe gestanden hatte. Und sein Name ... Mir wurde ganz anders zumute. Mulmig. Dann sah ich seine Jungs zum Grab kommen, aus seiner Kompanie. Sie kannten mich alle, sie hatten mir ja seine Briefchen gebracht. Keiner von ihnen sah mich an, als wäre ich gar nicht da. Oder sie erkannten mich nicht. Später, wenn ich sie traf, dann schien mir ... Also, ich denke ... Sie wünschten sich, dass ich tot wäre. Sie konnten nicht mit ansehen, dass ich noch lebte ... Das fühlte ich ... Als wäre ich irgendwie schuld ... Vor ihnen ... Oder vielleicht auch vor ihm ...
Als ich aus dem Krieg zurückkam, wurde ich schwer krank. Ich zog lange von Krankenhaus zu Krankenhaus, bis ich an einen alten Professor geriet. Er behandelte mich. Er sagte, wenn ich mit achtzehn, neunzehn an die Front gekommen wäre, dann wäre der Organismus schon gefestigt gewesen, aber sechzehn, das sei sehr früh, das habe den Organismus schwer geschädigt. ›Medikamente sind natürlich das eine‹, erklärte er, ›sie helfen ein bisschen, aber wenn Sie wieder gesund werden wollen, wenn Sie leben wollen, dann habe ich für Sie nur einen Rat: Sie müssen heiraten und möglichst viele Kinder bekommen. Nur das kann Sie retten. Mit jedem Kind wird sich der Organismus regenerieren.‹«
»Wie alt waren Sie da?«
»Als der Krieg vorbei war, knapp zwanzig. Natürlich dachte ich nicht daran zu heiraten.«
»Warum nicht?«
»Ich fühlte mich sehr erschöpft, viel älter als meine Altersgenossen, sogar richtig alt. Meine Freundinnen gingen tanzen, amüsierten sich, aber ich konnte das nicht, ich betrachtete das Leben schon mit ganz anderen Augen. Äußerlich sah man mir das nicht an, mir liefen viele junge Männer nach. Jungen. Sie konnten meine Seele nicht sehen, das, was in mir vorging. Ich habe Ihnen einen Tag erzählt ... Von den Kämpfen bei Sewsk ... Nur einen einzigen Tag ... Der so schlimm war, dass ich in der Nacht aus den Ohren blutete. Am Morgen wachte ich auf wie nach einer schweren Krankheit. Das ganze Kissen war voller Blut ...«
»Haben Sie geheiratet?«
»Ich habe geheiratet. Ich habe fünf Söhne geboren und großgezogen. Das ist für mich das Erstaunlichste, dass ich nach dieser Angst, nach diesem Schrecken noch schöne Kinder zur Welt bringen konnte ... Und dass ich eine gute Mutter wurde und eine gute Großmutter ...
Wenn ich mich heute an all das erinnere, dann scheint mir, das war gar nicht ich, das war ein anderes Mädchen ...«
Unterwegs nach Hause, im Gepäck vier Kassetten (zwei Tage Gespräch) mit »noch einem Krieg«, empfand ich gemischte Gefühle: Erschütterung und Angst, Unverständnis und Verehrung, Neugier und Verwirrung. Zu Hause erzählte ich einzelne Episoden Freunden. Alle reagierten gleich: »Das ist zu schlimm. Was willst du mit so einer Heldin? Sie macht Angst.« Oder: »Das glaubt doch keiner. Und das druckt auch keiner.« Aber alle hatten Tränen in den Augen, genau wie ich, und wurden nachdenklich. Und diese Tränen ermutigten mich, keine Angst zu haben, nicht der Versuchung nachzugeben, etwas nicht auszusprechen, Unverständliches oder Schlimmes wegzulassen. Die Geschichte zu retuschieren oder umzuschreiben. Womit auch, welche Tinte taugte wohl dafür – schließlich ist sie mit Blut geschrieben worden. Dies ist weniger ein Bericht als vielmehr lebendiger Schmerz. Lebendiges Gefühl.
Ich muss mich diesem Schmerz anvertrauen. Und das tue ich. Ich will nicht
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