Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
behaupten, dass ich das immer ohne Zweifel und Unsicherheit tue. Auch ich brauche Mut, um mich aus den Zwängen meiner Zeit zu lösen, ihrer Sprache und ihrer Gefühle. Aber es gibt nur einen Weg – ich muss den Menschen lieben. So, wie er ist. Stark und schwach, unsicher und erbarmungslos. Sterblich und unsterblich. Verschieden.
Und ich lerne diese Liebe ...
»An diese Augen
erinnere ich mich noch heute ...«
Und so gehe ich weiter – von der Liebe zum Hass, vom Hass zur Liebe.
Die Straße, in der ich in Minsk wohne, trägt den Namen des Helden der Sowjetunion Wassili Sacharowitsch Korsh – Teilnehmer des Bürgerkriegs, Spanienkämpfer, Kommandeur einer Partisanenbrigade im Großen Vaterländischen Krieg. Eine Legende. An diesem Tag gehe ich die vertraute Straße mit einem neuen Gefühl entlang: Der aus Büchern und Filmen bekannte Name, den ich schon so oft ganz mechanisch auf Briefumschläge und Telegramme geschrieben habe, ist auf einmal kein abstraktes, vieldeutiges Symbol mehr, sondern etwas Vertrautes, Konkretes. Etwas Fassbares. Eine halbe Stunde mit dem Bus ans andere Ende der Stadt, und ich werde seine Töchter sehen. Vor meinen Augen wird der Mythos zu menschlichem Leben erwachen. Vertraut und verständlich.
Die Tür öffnet die Jüngste – Sinaïda Wassiljewna. Die gleichen breiten dunklen Augenbrauen, der gleiche unbeirrt offene Blick wie auf den Fotos des Vaters.
»Wir sind alle beisammen. Heute Morgen ist meine Schwester Olga aus Moskau angekommen. Sie lebt dort. Sie unterrichtet an der Patrice-Lumumba-Universität. Unsere Mutter ist auch da. Ja, dank Ihnen treffen wir uns alle.«
Beide Schwestern, Olga und Sinaïda Korsh, waren Sanitätsinstrukteurinnen in Kavallerieschwadronen. Sie sitzen nebeneinander und schauen ihre Mutter an – Feodossija Alexejewna.
Sie beginnt: »Alles brannte ... Wir sollten evakuiert werden ... Wir waren lange unterwegs. Bis zum Stalingrader Gebiet. Frauen und Kinder zogen ins Hinterland, die Männer in die entgegengesetzte Richtung. Mähdrescherfahrer, Traktoristen – alle. Einer, das weiß ich noch, in einem voll besetzten Anderthalbtonner, der stand auf und rief: ›Mütter, Schwestern! Geht ins Hinterland, erntet das Getreide, damit wir den Feind besiegen!‹ Dann nahmen sie alle die Mütze ab und sahen uns an. Wir hatten nur eines mitnehmen können – unsere Kinder. Die hielten wir. Auf dem Arm oder an der Hand. Und er: ›Mütter, Schwestern! Geht ins Hinterland, erntet das Getreide ...‹«
Danach sagt sie während unseres ganzen Gesprächs kein Wort mehr.
Sinaïda Korsh:
»Wir lebten in Pinsk. Ich war vierzehneinhalb, Olga sechzehn, unser Bruder Ljonja dreizehn. Olga war gerade in ein Kindersanatorium gefahren, und unser Vater wollte uns aufs Land begleiten. Zu seinen Verwandten. Doch in dieser Nacht war er faktisch nicht zu Hause. Er arbeitete im Gebietskomitee der Partei, er wurde in der Nacht gerufen und kam erst am Morgen zurück. Er kam in die Küche gelaufen, aß rasch einen Happen und sagte: ›Kinder, es ist Krieg. Geht nicht weg. Wartet auf mich.‹
Er sah uns an, als sähe er uns zum letzten Mal ... An diese Augen musste ich den ganzen Krieg lang denken. An diese Augen erinnere ich mich noch heute ...
In der Nacht brachen wir auf. Vater hatte ein wertvolles Erinnerungsstück an Spanien – ein Jagdgewehr, reich verziert, dazu eine Patronentasche. Eine Tapferkeitsauszeichnung. Er warf das Gewehr meinem Bruder zu: ›Du bist jetzt der Älteste, du bist der Mann, du musst auf Mama und auf deine Schwestern aufpassen ...‹
Dieses Gewehr haben wir den ganzen Krieg hindurch aufbewahrt. Alles, was wir sonst an guten Sachen besaßen, haben wir verkauft oder gegen Brot getauscht, aber das Gewehr haben wir bewahrt. Davon konnten wir uns nicht trennen. Das war eine Erinnerung an unseren Vater. Außerdem warf er uns noch einen großen Mantel zu, sein wärmstes Kleidungsstück.
Auf der Bahnstation stiegen wir um in einen Zug, gerieten aber noch vor Gomel unter Beschuss. Als der Angriff zu Ende war ... Erst Stille, dann Schreie ... Alle rannten ... Mama konnte mit meinem Bruder noch in den Waggon springen, ich blieb draußen. Ich war sehr erschrocken ... Sehr! Ich war noch nie allein gewesen. Und nun war ich ganz allein. Ich klammerte mich an eine Frau, half ihr, Verwundete zu verbinden – sie war Hauptmann, Ärztin. Ich fuhr mit ihrer Sanitätstruppe weiter. Sie kümmerten sich um mich, gaben mir zu essen, fragten aber bald: ›Wie alt bist du
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