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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Tscherkessenmützen und Kavalleriestiefel. Eine Aufnahme von zweiundvierzig. Nur ein Jahr später, aber es sind ganz andere Gesichter, andere Menschen. Dann ein Foto, das Sinaïda ihrer Mutter nach Hause geschickt hat: An der Feldbluse steckt die erste Medaille: »Für Tapferkeit.« Und hier beide am Tag des Sieges ... Was behalte ich in Erinnerung? Die Veränderung der Gesichter: Von den weichen kindlichen Zügen zum Blick erwachsener Frauen, ja, zu einer gewissen Härte, Strenge. Schwer zu glauben, dass dieser Wandel sich in wenigen Monaten, Jahren vollzog. Die normale Zeit vollbringt das weit langsamer und unmerklicher. Das menschliche Gesicht entsteht über einen langen Zeitraum.
    Der Krieg schuf rasch sein eigenes Menschenbild. Zeichnete seine eigenen Porträts.
    Olga:
    »Wir eroberten ein großes Dorf. Rund dreihundert Höfe. Dort lag ein verlassenes deutsches Lazarett. Im Gebäude des örtlichen Krankenhauses. Das Erste, was ich sah, war eine große Grube auf dem Hof, und darin erschossene Verwundete – die Deutschen hatten vor dem Rückzug ihre Verwundeten erschossen. Nur ein Zimmer war noch belegt, bis hier waren sie wohl nicht vorgedrungen, oder sie hatten sie liegen gelassen, weil sie alle keine Beine mehr hatten.
    Als wir ins Zimmer kamen, schauten sie uns voller Hass an: Wahrscheinlich dachten sie, wir würden sie töten. Der Dolmetscher erklärte ihnen, dass wir Verwundete nicht töten, sondern behandeln. Da stellten sie sofort Forderungen: Sie hätten seit drei Tagen nichts gegessen, seien seit drei Tagen nicht frisch verbunden worden. Ich sah sie mir an – es war wirklich schlimm. Sie waren lange nicht untersucht worden. Die Wunden eiterten, die Verbände waren eingewachsen.«
    »Und sie taten Ihnen leid?«
    »Ich kann das, was ich damals empfand, nicht als Mitleid bezeichnen, Mitleid, das ist ja Mitgefühl, aber ich wünschte ihnen auch nichts Böses. Ich empfand keinen Hass mehr auf sie. Wir hatten mal so einen Fall: Ein Soldat – die Faschisten hatten seine Familie zu Tode gequält, seine Frau und seine Kinder lebendig verbrannt – schlug einen Gefangenen. Die Nerven gingen mit ihm durch. Also, das schien mir unmöglich: Ich trat für den Gefangenen ein. Obwohl ich mich erinnerte ... Ich erinnerte mich an ein Bild ... Wie sie die Stiefel von unseren Soldaten mit abgeschnittenen Beinen vor ihrem Schützengraben aufgereiht hatten. Von unseren Kameraden, die einen Tag zuvor gefallen waren ... Ich erinnere mich ... Unsere erste Kette lief los und wurde niedergemäht, die zweite auch ... Viele sind auf Minen getreten ... Es waren Matrosen, sie lagen lange da, die Leichname waren aufgedunsen, und durch die gestreiften Hemden sahen sie aus wie Melonen. Auf dem großen Feld ...«
    Sinaïda:
    »Während der Schlacht bei Budapest. Es war Winter ... Ich schleppte einen verwundeten Unterfeldwebel, einen MG-Führer. Ich trug Hose und Wattejacke, eine Ohrenklappenmütze. Ich schleppe ihn also und sehe: Der Schnee ist ganz schwarz ... Verkohlt ... Ich begriff, das war ein tiefer Bombentrichter, genau das Richtige für mich. Ich hinunter in diesen Bombentrichter, und da ist schon jemand drin – ich spüre, dass er lebt, höre Metall knirschen ... Ich drehe mich um, und da liegt ein verwundeter deutscher Offizier, am Bein verwundet, und richtet seine MP auf mich. Meine Haare hingen aus der Mütze raus, und über der Schulter trug ich die Sanitasche mit dem roten Kreuz drauf. Als ich mich umdrehte, sah er mein Gesicht, begriff – ein Mädchen, und machte ›Ha-a-a!‹. Seine nervliche Anspannung ließ nach, und er warf die MP weg. Es war ihm plötzlich egal ...
    So saßen wir zu dritt in diesem Bombentrichter – unser Verwundeter, ich und dieser Deutsche. Der Trichter war klein, unsere Beine lagen dicht an dicht. So war das ... Ich war voller Blut ... Von allen beiden. Der Deutsche hatte riesige Augen, und er schaute mich die ganze Zeit an: Was ich tun würde. Er hatte seine MP sofort weggeworfen, verstehen Sie? Unser Verwundeter kapiert nicht, was los ist, greift nach seiner Pistole, will ihn erwürgen ... Und sieht mich an ... An diese Augen erinnere ich mich noch heute ... Ich verbinde ihn, und der Deutsche liegt in seinem Blut, ein Bein ist völlig zerschmettert. Noch eine Weile, und er stirbt. Also lasse ich unseren Verwundeten erst einmal warten, zerreiße dem Deutschen die Kleidung, verbinde ihn und lege ihm einen Druckverband an, dann verbinde ich den eigenen zu Ende. Der Deutsche sagt: ›Gut.

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