Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
Und er verzagte nicht. Er wollte so gern leben! Er war erst neunzehn, hatte überhaupt noch nicht richtig gelebt. Ich weiß nicht, ob er noch Verwandte hatte, aber er wusste – man würde ihn nicht im Stich lassen, er glaubte daran, dass man ihn nicht vergessen würde. Obwohl der Krieg unser Land so verwüstet hatte. Wenn wir Dörfer befreiten, dann waren sie alle niedergebrannt. Die Menschen hatten nur noch den nackten Boden. Nur den Boden.
Meine Schwester und ich sind keine Ärztinnen geworden, obwohl wir vorm Krieg davon geträumt hatten. Wir hätten ohne jede Aufnahmeprüfung einen Studienplatz bekommen, wie jeder Frontkämpfer. Aber wir hatten so viel gesehen, wie Menschen litten und starben, dass wir es nicht mehr ertragen konnten. Uns nicht einmal vorstellen mochten. Noch dreißig Jahre später habe ich meine Tochter davon abgebracht, Medizin zu studieren, obwohl sie es gern wollte. Jahrzehnte später ... Sobald ich die Augen schließe, sehe ich ... Es ist Frühling ... Wir laufen über ein Feld, auf dem gerade noch gekämpft wurde, suchen nach Verwundeten. Das Feld ist niedergetrampelt, junger Weizen. Ich stoße auf zwei Verwundete – ein junger Soldat von den Unsrigen und ein junger Deutscher ... Sie liegen im jungen Weizen und schauen in den Himmel ... Sie sind noch nicht vom Tod gezeichnet. Sie schauen in den Himmel ... An diese Augen erinnere ich mich noch heute ...«
Olga:
»Mir ist aus den letzten Kriegstagen Folgendes in Erinnerung geblieben: Wir fahren, und auf einmal klingt von irgendwo Musik. Eine Geige ... An diesem Tag war für mich der Krieg zu Ende, nicht am Tag des Sieges, als alle in die Luft schossen, sich umarmten und küssten, sondern an dem Tag, als ich die Geige hörte. Das war ein solches Wunder: plötzlich Musik. Es war wie ein Erwachen ... Wir alle glaubten, nach dem Krieg, nach einem solchen Meer von Tränen käme ein wunderbares Leben. Ein schönes Leben. Wir glaubten, alle Menschen würden nun herzensgut sein und einander lieben. Alle würden Brüder und Schwestern sein. Wie sehr haben wir auf diesen Tag gewartet ... Den Tag des Sieges! Und er war wirklich wunderbar. Selbst die Natur schien zu spüren, was in unseren Herzen vorging. Sie war auf unserer Seite. Auf einmal sprachen wir alle von der Zukunft! Von der Liebe. Ich dachte im Krieg immer: Wie viele Menschen jetzt in die Erde gelegt werden! Vergraben. So junge Menschen. So stark und schön. Ich fürchtete, ich könnte sterben, noch bevor ich ein Kind geboren hätte. Ich würde keine Spur hinterlassen ...
Ich wollte lieben ...«
»Wir haben nicht geschossen ...«
Viele Menschen waren im Krieg. Und im Krieg gibt es viel zu tun.
Da wird nicht nur geschossen und getötet, bombardiert und in die Luft gejagt, in den Nahkampf gezogen – dort wird auch Wäsche gewaschen, Essen gekocht, Brot gebacken, werden Kessel gescheuert, Autos repariert, wird Post ausgetragen und Tabak geliefert. Selbst der Krieg besteht nicht nur aus Großem, sondern auch aus Kleinem. »Da gab es bergeweise Arbeit für uns«, sagt die Krankenpflegerin Alexandra Iossifowna Mischutina . Der vorrückenden Armee folgte die »zweite Front« – Wäscherinnen, Köche, Autoschlosser, Postboten.
Sie haben ihre eigenen Erinnerungen – und das alles gehört zum kollektiven Gedächtnis. All dies im Grauen erworbene Wissen ist nicht nur Wissen über den Krieg, sondern Wissen über den Menschen generell, darüber, wozu er fähig ist, im Guten, als Mensch, und im Bösen, als Unmensch. Im Krieg lag alles nahe beieinander: Erhabenes und Niederes, Simples und Schreckliches. Doch was mir im Gedächtnis bleibt, ist weniger das Grauen als vielmehr die Standhaftigkeit im Grauen. Die Würde und Unbeugsamkeit. Wie das Menschliche dem Unmenschlichen widersteht. »Wir laufen durch Schlamm, die Pferde versinken in diesem Schlamm, die Anderthalbtonner bleiben stecken ... Soldaten schleppen Geschütze, ziehen Gespanne ... Mein Mann sagt zu mir, immer wieder: ›Schau hin! Schau genau hin! Das ist ein Epos! Ein Epos!‹« ( T. A. Smeljanskaja ,Kriegsberichterstatterin)
Sie schauten genau hin ...
Von Schuhen und einem verdammten Holzbein
»Vor dem Krieg lebte ich glücklich. Mit Vater und Mutter. Mein Vater war aus dem Finnischen Krieg heimgekehrt. Ihm fehlte ein Finger, und ich fragte ihn: ›Papa, wozu gibt es Krieg?‹
Schon bald kam der Krieg, und ich war noch gar nicht richtig erwachsen. Ich wurde aus Minsk evakuiert. Wir kamen nach Saratow. Dort arbeitete ich in einem
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