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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Kubakrise. Wieder war es unruhig in der Welt. Ich packte meinen Koffer, Kleider und Blusen. Hatte ich auch nichts vergessen? Ich holte die Mappe mit meinen Papieren hervor und nahm meinen Wehrpass heraus. Ich dachte: Wenn was passiert, dann gehe ich gleich dort ins Wehrkomitee.
    Schon dort im Urlaub, am Meer, erzählte ich beim Essen, dass ich meinen Wehrpass mitgenommen hätte. Nur so, ohne Hintergedanken, ohne mich damit brüsten zu wollen. Das hat einen Mann an unserem Tisch sehr beeindruckt: ›Nein, das kann nur eine russische Frau, ihren Wehrpass in den Urlaub mitnehmen und denken, wenn was passiert, geht sie gleich ins Wehrkomitee.‹
    Ich erinnere mich an seine Begeisterung. Seine Bewunderung.
    Aber – reden wir von der Liebe. Von meiner Liebe ...
    Mein Mann und ich gingen zusammen an die Front. Alle beide. Wir wollten uns nicht trennen.
    Ich erinnere mich ...
    Nach einem Gefecht ... Wir lagen auf abgemähtem Gras. Wir trauten der Stille nicht. Er streichelte das Gras, es war ganz weich ... Und er sah mich an ... Mit solchen Augen ...
    Er ging mit einer Gruppe auf Erkundung. Wir warteten zwei Tage auf sie ... Zwei Tage schlief ich nicht ... Dann schlief ich ein. Und erwachte davon, dass er neben mir saß und mich ansah. ›Leg dich schlafen.‹ – ›Ich mag nicht schlafen ...‹
    Ein so heftiges Gefühl ... Eine solche Liebe ... Es zerriss mir das Herz ...
    Ich habe vieles vergessen, fast alles habe ich vergessen. Ich erinnere mich nur an das Allerschlimmste, das hat alles andere verdrängt. Das Allerschlimmste ...
    Wir zogen durch Ostpreußen, sprachen schon vom Sieg. Er fiel ... Er war sofort tot. Ein Splitter. Ein schneller Tod. Sekundenschnell. Ich erfuhr es, rannte hin ... Ich umarmte ihn, ließ ihn nicht forttragen. Ihn nicht begraben. Im Krieg wurde schnell begraben: Die Gefallenen vom Tag, wenn das Gefecht nicht lange dauerte, die wurden alle gleich eingesammelt, von überall zusammengeholt, dann wurde eine große Grube ausgehoben. Und zugeschüttet. Manchmal nur mit trockenem Sand. Wenn man diesen Sand lange ansah, dann meinte man, er bewegt sich. Zittert. Er bebt, dieser Sand. Darunter liegen ja lebendige Menschen, vor kurzem haben sie noch gelebt ... Ich erinnere mich an sie ... Ich ließ ihn also nicht sofort begraben. Ich wollte noch eine Nacht mit ihm verbringen ... Noch mit ihm sprechen ... Ihn ansehen ...
    Am nächsten Morgen ... Ich beschloss, ihn nach Hause zu bringen. Nach Weißrussland. Das waren dreitausend Kilometer. Ringsum war Krieg. Alle dachten, ich hätte vor Kummer den Verstand verloren. ›Du musst dich beruhigen. Du musst schlafen.‹ Nein! Nein! Ich ging von General zu General, bis zu Rokossowski, dem Oberkommandierenden der Front. Erst lehnte er ab. Sie sind ja verrückt! Ich erreichte, dass ich ein zweites Mal zu ihm vorgelassen wurde.
    ›Soll ich vor Ihnen auf die Knie fallen?‹
    ›Ich verstehe Sie ja. Aber er ist tot.‹
    ›Ich habe keine Kinder von ihm. Unser Haus ist verbrannt. Selbst die Fotos sind vernichtet. Ich habe nichts mehr. So hätte ich wenigstens ein Grab. Dann wüsste ich, wohin ich nach dem Krieg zurückkehre.‹
    Er schwieg. Lief in seinem Büro auf und ab.
    ›Haben Sie jemals geliebt?‹
    Er schwieg.
    ›Dann will ich auch hier sterben. Ja, sterben! Wozu soll ich ohne ihn weiterleben?‹
    Er schwieg lange. Dann trat er zu mir und küsste mir die Hand.
    Ich bekam ein Sonderflugzeug für eine Nacht. Ich stieg ein ... Umarmte den Sarg ... Und verlor das Bewusstsein ...«
    Jefrossinja Grigorjewna Brëus , Hauptmann, Ärztin
    »Der Krieg hat uns getrennt ... Mein Mann war an der Front. Ich wurde erst nach Charkow evakuiert, dann nach Tatarien. Dort fand ich Arbeit. Eines Tages suchte jemand nach mir – mein Mädchenname ist Lissowskaja. Alle riefen: ›Sowskaja! Sowskaja!‹ Ich meldete mich: ›Das bin ich!‹ Sie sagten zu mir: ›Gehen Sie ins NKWD , dort bekommen Sie einen Ausweis, damit fahren Sie nach Moskau.‹ Warum? Niemand erklärte mir etwas, und ich wusste es nicht. Es war Krieg ... Unterwegs überlegte ich: Vielleicht ist mein Mann verwundet, und ich werde zu ihm geholt. Ich hatte schon seit vier Monaten nichts von ihm gehört, keine Nachricht. Ich nahm mir vor, wenn ich ihn ohne Arme oder ohne Beine antreffe, als Krüppel, dann nehme ich ihn sofort mit nach Hause. Irgendwie würden wir schon damit leben.
    In Moskau ging ich zur angegebenen Adresse. An der Tür stand: › ZK der KPW ‹, also unsere weißrussische Regierung; dort warteten

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