Der Krieger und der Prinz
obwohl sich diese weder geregt noch gesprochen hatte. »Mein kleiner Junge ist krank. Er … er hat sich vor einigen Wochen am Kopf wehgetan, und seither geht es ihm nicht mehr gut. Ich habe gehört, dass du eine Heilerin bist. Kannst du ihm helfen?«
Nicht die alte Vettel gab Antwort, sondern das Mädchen.
»Sie ist nicht Ghaziel«, murmelte das dunkelhaarige Mädchen. »Das bin ich.«
»Das verstehe ich nicht.«
Das Mädchen – Ghaziel – bedachte sie mit einem kleinen, müden Lächeln. Das ungewisse Licht machte es schwer, ihre Miene zu deuten, aber Odosse glaubte, Schmerz darin zu erkennen – erheblich mehr Schmerz, als es in einem so jungen Gesicht geben sollte. »Du bist eine Außenseiterin unter uns. Außenseitern präsentieren wir immer eine unserer Großmütter als Tehazra; sollte man sie dann ergreifen oder steinigen, ist der Schaden für das Volk geringer. Eine wahre Tehazra ist kostbar für unser Überleben; eine Großmutter ist nur kostbar in unseren Herzen. Du verstehst? Aber der Seelenstern brennt blau in deiner Aura, also werde ich hier mit offenem Gesicht sprechen.«
»Ich danke dir«, erwiderte Odosse und wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.
»Du willst eine Heilerin für das Kind in deinen Armen, das kein Kind deines Fleisches ist.«
»Woher … ich meine … ja. Ja, das ist richtig.«
»Woher ich es wusste? Eure Gesichter sind offen.« Ghaziel berührte ihr eigenes Gesicht, das gezeichnet war von zwei hohlen, grünen Sternen, deren Spitzen einander berührten und ihr rechtes Auge umrahmten. »Die Zukunft lässt sich nicht in den Linien von Händen lesen, wie ihr Außenseiter es gern glauben wollt. Die Zukunft lässt sich überhaupt nicht lesen, außer wenn man das Blut verachtet. Aber die Wahrheit über eine Person liegt in den Linien des Gesichtes, und du schützt die deinen nicht durch andere.«
Odosse schüttelte den Kopf. Sie war außerstande, dem Mädchen zu folgen, und zu verwirrt, es zu versuchen. Was zählte, war die Frage, ob diese Leute Wistan helfen konnten. Sie kehrte zu diesem Gedanken zurück wie zu einem Anker der Wirklichkeit in einem Gespräch, das mit jedem Wort weiter davon wegzutreiben schien. »Kannst du ihn heilen?«
»Ja. Der Preis für ein Kind wird ein anderes sein.«
»Nein.« Sie drückte Aubry wild an sich und spannte den Arm, mit dem sie ihn hielt, noch bevor ihr die Worte über die Lippen kamen. »Ich werde euch meinen Sohn nicht geben.«
Ghaziel schüttelte den Kopf, eine schnelle, fließende Bewegung, die im Licht ihres Seelensterns irgendwie unmenschlich wirkte. Die Glasstücke in ihren Ohrringen klimperten unter ihrem Haar und versprühten blaue Funken. »Wir wollen ihn nicht. Nicht diesen.«
»Er ist der einzige, den ich habe.«
»Schließe den Vertrag mit uns, und du wirst einen weiteren gebären. Wir werden ihn noch vor der Geburt als einen der unseren zeichnen, und wir kommen ihn holen, wenn er entwöhnt ist. Das ist der Preis für unsere Hilfe.«
Odosse schluckte. »Muss ich mich jetzt entscheiden? Darf ich darüber nachdenken?«
»Natürlich.« Ghaziel erhob sich geschmeidig, obwohl der Wagen rollte, und entriegelte die Tür. Winterlicht quoll herein. »Unser Preis ist ein Wahrpreis. Er wird sich nicht ändern, bis du ihn annimmst oder wir dem Kind nicht mehr helfen können. Kehre zurück, wenn du bereit bist!«
»Wir werden morgen nach Seewacht aufbrechen«, sagte Brys am nächsten Abend, während er Wild an einem Spieß über dem Feuer briet. Er hatte sich an diesem Nachmittag von der Karawane entfernt, gejagt und war mit einem enthäuteten und geviertelten Hirsch zurückgekehrt, den er in seine eigene Haut gestopft hatte. Die Hälfte des Hirschs hatten sie bei den Vis Sestani gegen dies und das aus ihren Wagen eingetauscht; die andere Hälfte zischte über den Flammen. Eingerieben mit Salz und getrocknetem Rosmarin war es nach einem harten Tagesmarsch ein einfaches, aber wunderbares Mahl.
»Ich dachte, wir würden mit den Vis Sestani reisen.«
»Das haben wir auch getan. Es sind jetzt fünf Tage verstrichen. Niemand folgt uns. Ich glaube, wir können gefahrlos allein weiterreisen.«
»Seewacht ist weit entfernt, nicht wahr?« Unvorstellbar weit für sie. Das Reich der Gekauften Prinzen war ein Name, den Odosse nur aus den Geschichten von Reisenden kannte; diese Welt war ihr so fremd wie die der Nachtigallenhöfe von Kai Amur oder das schaumgekrönte Nebaioth, wo die Sonne niemals unterging und Perlen so gewöhnlich waren wie
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