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Der Krieger und der Prinz

Der Krieger und der Prinz

Titel: Der Krieger und der Prinz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merciel Liane
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Tarnebrück verließen, trugen die Tiere Glocken, aber nach einem Tag auf der Straße nahmen die Vis Sestani die Glocken ab.
    In jenen ersten Tagen sprachen sie weder mit Brys noch mit Odosse besonders viel. Die Anführerin der Vis Sestani war anscheinend eine alte Frau namens Razhi, deren tätowierte Sterne auf den Wangen so verblasst und runzelig waren, dass sie aussahen wie Schimmelflecken. Als sie die Stadt verließen, sprach sie kurz mit Brys. Odosse war zu weit entfernt, um das Gespräch mit anzuhören, aber anschließend durften sie sich den Vis Sestani anschließen, die die Nachzügler anscheinend so gründlich übersahen wie die Ritter und Soldaten, die auf der Straße an ihnen vorbeiströmten.
    Odosse hatte nicht erwartet, dass sie im Winter so vielen Rittern auf der Straße begegnen würden, aber sie schienen ebenso zahlreich zu sein wie die Gänse mit den schwarzen Hälsen auf ihrem Weg nach Süden. Als sie Brys danach fragte, schüttelte der Söldner nur den Kopf.
    »Es ist nicht gewöhnlich«, sagte er. »Raharic ruft seine Streiter zusammen. Ich würde eine Faust voll Silber darauf wetten, dass Theodemar auf der anderen Seite des Seivern das Gleiche tut.«
    »Warum?«
    »Galefrid, vermute ich, und Weidenfeld.«
    In dieser Reihenfolge, das wusste sie. Das Leben eines einzelnen Ritters wog auf den Waagschalen der Welt mehr als das Leben aller Menschen in ihrem Dorf. Sie schaute den Reitern nach, die auf stahlbeschlagenen Pferden dahindonnerten und die Erde erbeben ließen, und sie war froh, von ihnen gar nicht wahrgenommen zu werden. Ihre Gesichter waren so grimmig.
    Die Vis Sestani waren nicht annähernd so grimmig, aber auch nicht gütig. »Sie sind nicht besonders freundlich«, bemerkte Odosse, als sie eines Abends das Lager aufschlugen. Sehnsüchtig schaute sie zu dem Gemeinschaftsfeuer hinüber, das zwischen den Wagen der Vis Sestani brannte. Der Geruch von gebratenem Fleisch und leckerem Eintopf wehte zu ihnen herüber. Sie hatten die Stimmen zu einem fröhlichen Gesang erhoben, begleitet von den schnellen Schlägen auf den Kelchtrommeln und den Klängen von Rohrflöten. Aubry hob den Kopf, lauschte und bewegte die rundlichen Finger unbeholfen zum Takt der Musik. Ihr eigenes kleines Feuer und ihr Mahl aus gekochter Gerste und getrockneter Wurst erschien im Vergleich zu dem der Vis Sestani jämmerlich.
    »Sie haben ihre Gründe«, sagte Brys.
    »Wir haben ihnen nichts Böses getan.«
    »Viele andere aber schon.« Er schöpfte den Brei mit den Wurstscheiben in eine Schale, ohne zu erkennen zu geben, dass er ihre exotischen Gefährten um ihr Mahl beneidete. Dann reichte er ihr die Schale, bevor er den Rest aus dem Topf in seine eigene gab. »Die Vis Sestani reisen nicht waffenlos, weil sie den Frieden lieben. Sie tun es, weil jedes einzelne der Sonnengefallenen Königreiche ihnen verbietet, Schwerter zu tragen, und die hiesigen Lords nutzen das gern zum Vorwand, sie zu massakrieren, wenn sie dabei ertappt werden, dass sie das Gesetz brechen. Und sie tätowieren ihre Gesichter mit Sternen, weil sie einst mit Gewalt als Außenseiter gebrandmarkt wurden. Statt sich von anderen mit heißen Eisen entstellen zu lassen, schufen sie daraus ihre eigene Tradition. Jetzt tun sie es auf ihre Art und sind deshalb vielleicht glücklicher, aber eine großartige Wahl hatten sie nicht. Also haben sie ein Recht darauf, Außenseitern mit Argwohn zu begegnen, und ich mache ihnen daraus keinen Vorwurf.«
    »Warum?«, fragte Odosse und ließ entsetzt ihren Löffel fallen. »Warum sollte jemand ihre Gesichter brandmarken?«
    »Um sie als das zu kennzeichnen, was sie sind. Wie ich dir erzählt habe: Sie verfügen über eigene Magie. Genug, um den Menschen Angst vor dem zu machen, was sie tun könnten, aber nicht genug, um sich selbst zu schützen. Sie genießen nicht die Unterstützung eines großen Glaubens wie die Sonnenritter, und sie werden nicht von einer Armee beschützt wie die Dornen. Ihre Magie ist ohnehin nicht so mächtig wie die dieser beiden. Ein Liebestrank, der einige Stunden anhalten mag, ein Zauber, der einer unfruchtbaren Frau hilft, ein Kind zu empfangen … das ist so ziemlich das Beste, was sie zuwege bringen. Ihre einzige Sicherheit liegt darin, sich zu Gruppen zusammenzufinden und fortzugehen, wenn die Dinge sich schlecht für sie entwickeln, und das ist der Grund, warum sie auf den Straßen bleiben.«
    »Das ist schrecklich.«
    »Das ist das Leben. Sie haben es besser als manch andere.«
    Odosse

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