Der Krieger und der Prinz
Hafer dringender als wir. Wenn wir kein Pferd haben, erreichen wir die Stadt nie. Du kannst für eine Weile ohne Haferschleim auskommen. Wir sollten Karchels Turm in drei Tagen erreichen; wenn es weiter schneit, in vier oder fünf. Dann werde ich dir neuen Hafer besorgen.«
Wegen des heftigen Schneefalls konnten sie kein Feuer machen, also erhitzte Brys Wasser über ihrer Kochlampe und bereitete stattdessen heißen Tee und eine schwache Suppe zu. Ohne die tröstlichen Flammen, die ihr Lager erhellten, schien die Nacht noch kälter zu sein.
Der Schneesturm hätte schön sein können, hätte sie ihn hinter einer Fensterscheibe beobachtet. Da Odosse unter einer dünnen Decke in ihrem Zelt schlafen musste, waren die Flocken eher bedrohlich als wunderschön. Aubry war unruhig und weinte während der gesamten spärlichen Mahlzeit. Er schlug nach dem schmelzenden Schnee, der auf sein Gesicht tropfte, und Wistan fühlte sich gefährlich kalt an. Odosse war froh, als sie beide schlafen legen konnte; die Wärme ihres Körpers beruhigte die Kinder etwas, und irgendwann in der stillen Nacht schlummerte sie selbst ein.
Der Morgen brachte ein zerbrechliches, graues Licht sowie ein schleichendes Gefühl mit sich, dass etwas nicht stimmte. Sie brauchte einen Moment, bis sie den Grund hierfür verstand. Im Zelt war es ruhig, eine kleine Zuflucht der Stille, durchbrochen nur vom leisen Knarren der schneebeladenen Bäume draußen und von Brys’ Schnarchen drinnen. Aubry war ein in Pelze gewickelter Wärmebeutel an ihrer Brust, und Wistan …
Wistan lag kalt und steif neben ihm.
Odosse setzte sich so ruckartig auf, dass Aubry schreiend erwachte, aber ausnahmsweise einmal war sie taub gegenüber dem Weinen ihres Sohnes. Mit zitternden Fingern wickelte sie die Kaninchenpelze aus, in denen Wistan die Nacht über gelegen hatte. Das Kind regte sich nicht, und es gab auch nicht diese kleinen Laute zwischen Schluchzen und Schluckauf von sich, die ihr so vertraut geworden waren.
Sein Gesicht war bleich und friedlich. Die eingefallenen Augen und die trockenen, runzeligen Lippen verliehen Wistan das Aussehen eines sehr alten Mannes, der sehr jung gestorben war, aber jetzt zeigte er keine Spuren von Leiden mehr. Er war reglos wie eine Eisschnitzerei in ihren Händen und genauso kalt.
Odosse legte ihn bedrückt, aber sanft auf ihre Decken, dann kauerte sie sich an Brys’ Seite.
»Brys«, flüsterte sie und rüttelte ihn an der Schulter. »Brys! Wistan ist tot.«
17
Er war nicht überrascht.
Auch später noch, wenn Odosse an jenen schrecklichen Morgen nach dem Sturm zurückdachte sowie an alles, was sonst an jenem Tag geschehen war, war das erste und deutlichste Bild, das sie vor sich hatte, das Funkeln von Brys’ katzengrünen Augen, als er im frühen, grauen Licht einer verschneiten Morgendämmerung erwachte. Und sein absoluter Mangel an Überraschung.
»Wistan ist tot«, wiederholte sie, weil sie glaubte, er habe sie nicht gehört.
Brys nickte. Einen Moment später stand er auf, beschwerte sich mit einem halbherzigen Fluch über die Kälte und entfachte in ihrer Kochlampe ein kleines Feuer. Sein kohlschwarzes Haar stand an der Seite hoch, auf der er geschlafen hatte, und er fuhr sich mit den Fingern hindurch, um es zu glätten.
»Dann bleibt uns eine Wahl«, sagte er, während er Wasser aus seinem Schlauch in den Kessel der Laterne goss, »oder zumindest dir.«
»Und welche?«
»Ob es Wistan war, der gestern Nacht gestorben ist, oder Aubry.«
Odosse blinzelte verwirrt. Sie warf nervös einen Blick zu ihrem Bett hinüber, wo Aubry noch immer schrie, wobei er zwischendurch kaum eine Pause einlegte, um Atem zu schöpfen. Neben seinem rotgesichtigen Elan sah das tote Kind aus wie eine Wachspuppe. »Wistan natürlich.«
»Du verstehst nicht, worauf ich hinauswill. Du weißt es. Ich weiß es. Aber sonst weiß es niemand. Alle, die Wistan in dieser Welt kannten und liebten, sind tot. Also frage dich: Ist es besser für dich und für ihn, wenn das Kind, das diesen Morgen überlebt, Wistan oder Aubry ist?«
Sie brauchte einen Moment, bis sie begriffen hatte, wovon er sprach. Dann weiteten sich ihre Augen. »Das ist ungeheuerlich.«
Sie wusste nicht genau, ob sie Brys’ Vorschlag meinte oder ihre eigene Versuchung, den Vorschlag anzunehmen. Wistan war tot, weil sie sich geweigert hatte, den Preis für seine Heilung zu zahlen; wie konnte sie daran denken, diesen Tod für sich auszunutzen? Würde sie das nicht zu … Odosse tastete
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