Der Krieger und der Prinz
weil die Grenzfeste jetzt an einen jüngeren Sohn gefallen war, der Bücher mehr liebte als Pferde?
Ein weiteres Rätsel. Doch dessen Lösung war einfacher.
Er zog den Kopf ein, als er die heilige Stätte betrat, und hielt inne, damit seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Kerzen waren ein teurer Luxus, und die in der Kapelle würden erst angezündet werden, wenn es an der Zeit war, die Toten in Celestias immergoldene Lande zu schicken. In der Zwischenzeit war das einzige Licht, das hereindrang, das von den Wolken grau gefärbte Sonnenlicht, das durch die Sonnenmotive der Buntglasfenster fiel.
Die heilige Stätte war kalt, düster und verlassen. Menschen blieben nicht gern allein mit den Toten, selbst wenn diese Toten nur in Gestalt von Abbildern zugegen waren.
Leferic beugte sich über den Sarg seines Bruders und tat so, als bete er über dem leeren Holz. Er blieb dort, bis seine Knie zu schmerzen begannen und seine Finger in den feinen Kalbslederhandschuhen steif geworden waren. Wie die Wolken über die Sonne glitten, so wurde das Licht, das durch die Fenster fiel, dunkler und wieder heller.
Gerade als er langsam die Hoffnung aufgab, dass das Treffen eingehalten würde, kam ein massiger, in eine graue Trauerrobe gehüllter Mann zum Sarg herübergeschlendert. Der Mann war etliche Zentimeter kleiner als Leferic, der seinerseits für einen Eichenharner ungewöhnlich groß war, aber seine Schultern waren volle zwei Handspannen breiter und die Arme dick wie junge Bäume. Eine Scheide schlug klirrend gegen einen gepanzerten Schenkel unter der grauen Wolle seiner Robe.
Leferic neigte den Kopf noch tiefer, sah zur Seite und konnte daher einen Blick unter die Kapuze des Mannes an seiner Seite werfen. Er sah eine längliche, grau gesprenkelte Kinnbacke, verschandelt von einer Narbe, die ihm ein zweites, bleiches Grübchen in die Haut schnitt, und bemerkte in einem der grauen Augen, die tief in ihren Höhlen lagen, ein erheitertes Aufleuchten. Er kannte diese Narbe, und er kannte diesen Blick.
Albric Urdaring, einst der Schwertmeister von Bullenmark, war Leferics einziger echter Freund auf der Welt. Weder sein Vater noch sein Bruder hatten viel Zeit für ihn gehabt, daher hatte man Leferic als Knaben in Albrics Obhut gegeben, damit er das Lesen und die Schwertkunst erlernte. Leferic hatte nur wenig Talent auf dem Übungshof gezeigt, und Albric noch weniger in der Bibliothek, aber sie hatten sich beide irgendwie durchgebissen. Es war Albric, der ihm geholfen hatte, sein erstes Streitross zu meistern, der ihn auf die Falkenjagd mitgenommen und dem Jungen die von ihm selbst erlegten Fasanen geschenkt hatte, damit Leferic nicht dadurch beschämt wurde, dass er mit leeren Händen von der Jagd heimkehrte. Im Laufe der Jahre hatten beide Männer einander gut kennengelernt, und es gab keinen Mann in Eichenharn, dem Leferic mehr vertraute.
Darin lag eine gewisse Ironie, das wusste er. Albric stammte nicht aus Bullenmark, und deswegen misstrauten ihm einige Lehnsmänner seines Vaters. Albric war Hauptmann der Ehrenwache gewesen, die Lady Indoiya, Leferics verstorbene Mutter, begleitet hatte, als sie nach Bullenmark gekommen war, um Lord Ossaric zu heiraten. Zu Ehren ihrer Ankunft hatte Lord Ossaric ihren Hauptmann zum Schwertmeister ernannt, aber nach Lady Indoiyas Tod war Albric auf den Rang eines bloßen Ritters ohne Grund und Boden zurückgestuft worden, und der Posten war an einen in Bullenmark geborenen Mann gefallen. Leferic war damals ein Kind gewesen, noch keine zehn Jahre alt, aber die Ungerechtigkeit dieses Geschehens erbitterte ihn noch immer. Ob es jedoch Albric ebenfalls erzürnte, konnte er nicht erkennen. Der Ritter sprach niemals darüber. Sein Leben lang hatte Albric treu und klaglos gedient; er akzeptierte Lohn oder Zurückstufung mit der gleichen Gelassenheit und mühte sich lediglich, das Vertrauen seiner Lords zu rechtfertigen.
Es war Albric, den er ausgeschickt hatte, damit er den Tod seines Bruders sicherstellte.
»Wie hingebungsvoll von Euch, über einem leeren Sarg zu beten«, sagte der Mann in dem Kapuzenumhang.
»Ich bete für den Erfolg aller meiner Taten«, erwiderte Leferic.
»Das solltet Ihr auch.«
»Warum das?«, fragte Leferic. Er sprach mit gedämpfter Stimme, während ihm bereits ein Kribbeln banger Erwartung über den Rücken lief. Trotz Albrics Einwände hatte er eine Dornenlady in Dienst genommen, die bei den Ermordungen helfen sollte. Obwohl Albric ausdrücklich
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