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Der Krieger und der Prinz

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Titel: Der Krieger und der Prinz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merciel Liane
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und dem Fluss, gefallen oder in Gefangenschaft geraten, wäre da nicht die Verstärkung gekommen, die Haelgric über die Brücken von Tarnebrück geführt hatte. Die Lieder erzählten, dass Haelgrics letztes Pferd beim Kampf um die Brücken unter ihm erschossen worden sei, aber er sei so pflichtgetreu gewesen, dass er sich von einem nahen Feld einen Bullen geschnappt und dieses Untier geritten habe, um seinen König zu retten. Haelgrics Halsstarrigkeit war größer gewesen als die des Bullen: Er hatte ihn gewaltsam ins Kampfgetümmel gelenkt und die Schlacht gewonnen, dazu seinen Titel und eine Legende.
    Die Hörner, die die Rückenlehne des Stuhls krönten, stammten angeblich von jenem ersten Bullen. Die Wahrheit, so argwöhnte Leferic, war wahrscheinlich erheblich weniger aufregend. Gewiss galt das für den Thron.
    Geschwungene Hörner zogen sich an den Seiten der Rückenlehne des Stuhls entlang und standen an den Armlehnen hoch, wo sie ständig an seinen Ärmeln rissen. Ein Kissen gab es nicht, also taten Leferic am Ende jeder Audienz Rücken und Hintern weh. Er dachte ernsthaft darüber nach, ein verstecktes Kissen in die Rückseite seines Zeremonienumhangs einnähen zu lassen. Wenn er ein Kissen auf den Stuhl legte, würde ihm das den Spott seiner Lehnsmänner eintragen, aber der Verzicht auf ein Kissen wurde langsam allzu unerträglich.
    Er fragte sich, wie es sein Vater fertiggebracht hatte, so lange auf dem von den Göttern verfluchten Stuhl zu sitzen, ohne sich zu beklagen. Lord Ossaric wirkte in seiner großen Halle immer nur stoisch. Vielleicht hatte er das Geheimnis an Galefrid weitergegeben, aber Leferic war der jüngere Sohn, und niemand hatte je daran gedacht, ihm etwas weiterzugeben.
    Doch er war jetzt der Herrscher. Bequem oder nicht, der Thron von Bullenmark gehörte ihm, und er hatte ein Anrecht, darauf zu sitzen, denn Lord Ossaric war auf unbestimmte Zeit unpässlich.
    Abgesehen von den eigenen Kammerdienern hatten alle den alten Lord zum letzten Mal gesehen, bevor der Scheiterhaufen für Galefrid und dessen Familie aufgelodert war. Leferic war erschrocken gewesen, wie furchtbar sein Vater gealtert war. In den beiden Tagen zwischen dem Eintreffen des Boten und der hastig arrangierten Zeremonie zum Sonnenuntergang schien Lord Ossaric zwanzig Jahre älter geworden zu sein. Er hatte sich von einem grauen, aber starken alten Bären in die flüsternde Hülle eines Mannes verwandelt, dessen Geist in Gram ertrank. Seinem Vater hatte sowohl die Stimme zum Vorbeten gefehlt als auch die Kraft zum Heben seiner Kerze, also war es am Ende Leferic gewesen, der die Strahlende gebeten hatte, die Toten in ihre goldenen Länder zu geleiten, und es war Leferic gewesen, der seine Kerze an den Scheiterhaufen gehalten und den Haufen geölter Kräuter und Süßholz unter den leeren Särgen entzündet hatte.
    Das war vor drei Tagen gewesen. Seither war Lord Ossaric nicht aus seinem Schlafgemach herausgekommen, und die Herrschaft über Bullenmark war seinem Sohn zugefallen.
    Außer ihm selbst waren alle überrascht gewesen, dass Leferic sich recht gut dabei hielt. Er war von Natur aus ein guter Rechner und hatte ein scharfes Ohr für Einzelheiten, und das half ihm, Wahrheit von Übertreibung zu unterscheiden, wenn er zu Gericht saß. In jenen ersten Tagen hatte er reichlich Gelegenheit, Recht zu sprechen; am Schwerttag strömten stets viele Fremde mit Waffen in einer Hand und Bierhumpen in der anderen herein, was natürlich zu einer Flut von Disputen führte. Diebstähle, Kneipenschlägereien, Betrug beim Würfelspiel, ein Söldner, der im Kampf um eine Hure einem der Soldaten seines Vaters ein Messer in den Leib gerammt hatte … Er hatte alles angehört und tat, was er für gerecht hielt.
    Es bedurfte jedoch nicht der Weisheit des Erlösers Alyeta, um einen Wilderer schuldig zu sprechen, der mit blutigen Händen ertappt worden war, wie er Pfeile aus einem Hirsch seines Lords geschnitten hatte. Echte Herausforderungen hatte Leferic während seiner kurzen Regentschaft noch nicht erlebt. Bis auf den heutigen Tag.
    Heute sah er nämlich auf einen Mörder hinab.
    Der Mann war stämmig und in mittleren Jahren, hatte ein rundes, rötliches Gesicht und einen Bauch, der gegen seinen Gürtel drückte. Seine Handgelenke waren nicht gefesselt, und die Burgwachen drückten ihm auch nicht gewaltsam die Stirn auf den Boden, wie sie es zuvor bei dem Wilderer getan hatten. Er sah aus wie der gütige Onkel vom Land, nicht wie ein

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